Dies ist die Geschichte einer ganz normalen Familie aus einer Vergangenheit, die, nach gewöhnlichen Kriterien, „lange her“ ist, eine Familie, aus der Gegend, wo Deutschland besonders deutsch ist, aus der Schwabenmetropole Stuttgart. Eine deutsche Familie, eine ganz normale, „gutbürgerliche“, der Vater Kunsthändler, seine 17 und 19 Jahre alten Töchter auf dem besten Wege, auf den vorgezeichneten gutbürgerlich-gepflegten Wegen voranzukommen, die Ältere, Ricarda, möchte Cellistin werden.
Eine ganz normale Familie. Aber: Sie ist jüdisch. Im Deutschland der Dreißigerjahre. Was nützt es, normal zu sein, wenn die Zeiten es nicht sind. Die Dinkelspiels müssen fliehen. Sie können es glücklicherweise, sie haben die Adresse einer Tante in Dänemark. Die ist schon vor Jahrzehnten ihrem längst verstorbenem Mann in dessen Heimat gefolgt, einem „Ouäker“.
Seine Frau, die Tante, war ihm darin gefolgt. Ihre jüdische Identität legte sie ab. In Svendborg verfügte sie über ein Haus, eher ein Häuschen. Man muss zusammenrücken, für beide Teile nicht leicht, nicht für die großbürgerliche Familie, nicht für die Tante. Deren Motive zu helfen sind gemischt – dass sie vor der glaubensstarken Gemeinde als mustergültige Christin dasteht, ist ihr wichtig.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen ihre Herkunft zugunsten eines neuen, selbstgewählten Lebens ablegen – so ganz und endgültig gelingt der Kleiderwechsel selten. Wie die Autorin die allmähliche Rückbesinnung der Tante erzählt, zeugt von großem Einfühlungsvermögen. Das ist überhaupt die Stärke von Tanja Jeschke: die Menschen in ihrer seelischen Ambivalenz zu schildern, nicht als festgelegte Muster, die dem Leser als Spielfiguren vorgesetzt werden.
Aber wenn eine Person in diesem Roman im Mittelpunkt steht, dann ist es nicht die Tante, sondern die jüngere der Töchter, die sechzehnjährige Meret, aus deren Perspektive der Großteil des Geschehens an den Leser gelangt, mal in der dritten, mal in der ersten Person erzählt. Sie leidet darunter, dass ihre ältere Schwester anderes im Kopf hat, als sich im gemütlichen Dänemark zu assimilieren – die denkt nämlich an ihren Freund, Karl-Anselm, auch er studierender Musiker, den sie, ebenso wie ihre beste Freundin Brigitte, in München zurückgelassen hat. Zu ihm will sie zurück, und mit ihm weiter nach Palästina – das hat er versprochen. Bei ihr also ein großer Traum, bei Meret noch das suchende Bemühen, am Ort kleine Lichter eines Freiheitsgefühls zu entzünden, sei’s mit Hilfe des Motorrades, das die Schwestern nutzen.
Dieses lenkt sie eines Tages zum Haus Bertolt Brechts, der in einem Ort in der Nähe Zuflucht gefunden hat. Sie will nur einen Blick auf ihn erhaschen – auch hier gelingt es der Autorin musterhaft, das Zwielichtige in B. B.’s Charakter nicht zu plakatieren, sondern durchscheinen zu lassen.
Das alles macht neugierig, wie es mit der Familie weitergegangen ist. Darüber klärt der Epilog auf, der den Eindruck erweckt, als handele es sich um eine „wahre“, dem Leben entnommene Geschichte.
Ein Buch, das es sich lohnt, zu lesen.
Helmut Kremers
war bis 2014 Chefredakteur der "Zeitzeichen". Er lebt in Düsseldorf. Weitere Informationen unter www.helmut-kremers.de .