Erbsäure in den klerikalen Genen

Wie Jesus von der Kirche benutzt und vereinnahmt wird
Foto: privat

Alles wie immer: Das Kirchenjahr schreitet voran. Seine Mitte hat es hinter sich, Karfreitag und Ostern waren vor Monaten. Schon bald geht es wieder von vorne los. Doch an Jesus dächte wohl kaum noch jemand ohne die Kirche. Die beiden haben allerdings ein schräges Verhältnis zueinander, eines mit Gefälle. Denn wir wissen eigentlich nicht, wie Jesus sich selber sah. Es gibt bloß Versionen der Kirche von ihm, mit denen sie gleich nach seinem Tod begann. Jesus konnte sich dagegen von vornherein nicht mehr wehren oder gar den Zank darum schlichten, ist vielmehr ihrer Deutung seither ausgeliefert. Und die Kirche macht weidlich Gebrauch davon und war nie zimperlich dabei. Mutmaßlich noch viel genauer als gedacht hat insofern der Hildesheimer katholische Bischof Wilmer ins Schwarze getroffen, als er sagte: „Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.“

An dem klaffenden Spalt zwischen Jesus und dem Christus der Kirche wird das sichtbar. Denn dabei, wie sie ihn überdeckte, machte sie sich seine Wehrlosigkeit zu Nutze und hört damit auch nicht auf, wie zwei aktuelle Beispiele, die gegensätzlicher kaum scheinen können, zeigen: So führt eine lange als Bild-Kolumnistin aktive EKD-Emerita landauf, landab Jesus als Pazifisten im Munde, um ihren Ansichten Nimbus sowie ihrem Selbstbild Kontinuität zu verleihen. Zugleich muss er einem Kirchenpatriarchen dafür herhalten, einen völkischen Krieg zu überhöhen, der gegen die westliche Dekadenz letztlich in seinem Namen zu führen sei.

Schindluder treiben, hieß das früher. Jesus wird benutzt. Und beide behaupten, er habe das so gewollt, machen das Opfer ihrer Deutung zum Täter. Dass Jesus so was damals schon ahnte, wäre Spekulation. Tiefe Zweifel scheint er aber gehabt zu haben. Nicht von ungefähr denken manche, die gezielte Provokation der Autoritäten habe zu seinem Tod am Kreuz geführt, und der sei, wie man heute sagt, ein suicide by cop gewesen – aus Frust oder als Versuch, so das Kommen des Gottesreichs zu forcieren.

Wir wissen es nicht, mit einiger Sicherheit jedoch dies: „Jesus kündete das Reich Gottes an, und gekommen ist die Kirche“, wie der französische Theologe und Historiker Alfred Loisy 1902 schrieb. Er meinte das nicht böse oder wollte die Kirche desavouieren, im Gegenteil: nur als Feststellung, weil es historisch nicht anders hätte sein können.

Doch der Kampf um Deutungshoheit macht auch vor Lebenden keinen Halt: Loisys Schriften kamen auf den Index. Ihn selbst hat die katholische Kirche exkommuniziert und zum Vitandus erklärt, zu einem, der zu meiden ist. Etwas Ähnliches spielt Dostojewskis Legende vom „Großinquisitor“ literarisch für den Fall durch, dass Jesus wiederkehrte und erneut nur er selber wäre: Als dadurch die Kreise der Kirche empfindlich Störender wird er eingekerkert und soll auf den Scheiterhaufen, wird aber mit der Mahnung, das „niemals, niemals wieder“ zu tun, dieses eine Mal noch freigelassen.

Man mag die Argumente des Großinquisitors ablehnen, nachvollziehbar sind sie schon – was an der Legende wohl das eigentlich Erschreckende ist. Jemanden ausdeuten, der wehrlos ist, ist hier wie auch sonst ein scharfes Schwert, das zudem oft blutig war. Dennoch: Ohne die Kirche und ihren Christus wäre Jesus in Vergessenheit geraten. Aber sie kommt ohne ihn ebenfalls nicht aus, so schräg ihre Beziehung auch ist. Und sie hatte Erfolg damit, der jetzt allerdings zu enden scheint, zumindest bei uns.

In ihren Äußerungen dazu ist indes stets nur von ihr, also der Kirche, die Rede. Da fragt man sich, ob nicht genau das der Grund dafür ist, weil es ihr mehr um sich als um den zu gehen scheint, auf den sie sich beruft. Trotz der wackeligen Überlieferungslage scheint von dem immerhin bekannt, dass er dazu neigte, alles auf eine Karte zu setzen, dass er ein Radikaler ohne Bestandskalkül war. Das kann man, wie der Großinquisitor, unzeitgemäß finden, die Glaubwürdigkeit der Kirche unterminiert es aber doch.

Da ist es wohl an der Zeit, mal ganz offen das Wesen der Beziehung zwischen Jesus und Kirche zu bedenken, oder anders: seine für ihre Identität fraglos notwendige Vereinnahmung zu thematisieren. Überfällig ist das ohnehin. Schließlich kennen ihre Theologen den Konnex zur Genüge, sofern sie Kanon-, Dogmen- und Kirchengeschichte gründlich und nicht bloß in Vorfreude auf ihre späteren Bezüge studiert haben. Die Besinnung darauf könnte belebender wirken als das Suhlen in schaler Wahrheit, die zudem Produkt der eigenen Deutung ist.

Es wäre ein Wagnis. Ans Reich-Gottes-Anliegen des Nazareners reichte das eher heran als alles wortreiche Lamento über die Zukunft der Kirche, auch weil stets Unsicherheit bliebe wie im richtigen Leben: Fernab von rechter Lehre, Schielen auf Macht und alle Pensionskassen-Mentalität wäre die Kirche auf den Glauben zurückgeworfen. Und dem ist es wohl mehr um Bedeutsames als um Bestand zu tun. Vagabund und Wanderprediger scheinen ihm näher zu liegen als die Sorge um den Immobilienbesitz. Wären da bloß nicht die Gene. 

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