Faszination des Weges

Erfahrungen einer Kulturanthropologin auf dem Jakobsweg
Morgenstimmung auf dem Jakobsweg in Galicien (Nordspanien).
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Morgenstimmung auf dem Jakobsweg in Galicien (Nordspanien).

Auf und Ab, einen Schritt nach dem Anderen – und das tagelang. Warum tun sich Menschen das freiwillig an? Genau mit dieser For­schungsfrage beschäftigte sich Valerie-Therese Taus im Rahmen ihrer Masterar­beit an der Karl-Franzens-Universität in Graz. In ihrem Text schreibt die Kultur­an­thropologin über ihre wortwörtlichen Beweggründe, die berauschenden Begleiterscheinungen und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse.

Im heutigen Zeitalter suchen viele Menschen nach einer Flucht aus dem stressigen Alltag und der Hektik der modernen Welt. Die Pluralisierung der Gesellschaft, die ständige Vernetzung und die schnelllebige Kultur haben dazu geführt, dass Menschen sich nach Ruhe und Entspannung sehnen. Neben Wellness- und Yoga­angeboten erfreuen sich Backpacking- und Pilgerreisen großer Beliebtheit am Tourismusmarkt. Und nach wie vor gibt es viele Menschen, die ihren Rucksack packen und sich auf den „Camino“ machen.

Wissenschaftlich interessant daran ist, ob die ursprünglichen Motive für eine Wallfahrt auch heute noch relevant sind und wie sich diese Pilgerreisen auf die Individuen auswirken können. Mithilfe kulturwissenschaftlicher Methoden konnten diese und weitere Fragen in der eigens verfassten Masterarbeit beantwortet und ein besseres Verständnis für die Bedeutung und Auswirkungen von Pilgerreisen in der modernen Welt erlangt werden. Die in der Arbeit so betitelte „dritte Generation“ des Pilgerns schließt weder religiöse Hintergründe des Zeitalters 1.0 noch spirituelle Motive beim Pilgern 2.0 aus, sondern stützt sich lediglich auf die Annahme, dass dadurch vorwiegend ein Kontrast zum Alltag gesucht wird.

Dabei geht es darum, der stressigen und hektischen Lebenswelt für einen bestimmten Zeitraum zu entfliehen und somit eine „Auszeit vom Leben“ zu nehmen. Diese Idee ist nicht nur auf Pilgerreisen beschränkt, sondern findet sich auch in anderen Reisemotiven – wie beispielsweise der Wanderlust, die heutzutage weltweit an Bedeutung gewinnt und auch in anderen Kulturen und Sprachräumen Anwendung findet. Dabei steht das Bedürfnis nach Abenteuer, Naturerlebnis und dem Gefühl der Freiheit im Vordergrund.

Mein persönliches Interesse am Thema entstand, als ich spontan die Idee hatte, mit einigen Freund*innen im Sommer einen Teil des Jakobswegs zu gehen. Ich war überrascht und fasziniert von der sofortigen Zustimmung meiner Freund*innen zu meinem Vorschlag und begann mich zu fragen, warum sie so spontan und gerne bereit waren, daran teilzunehmen. Die Tatsache, dass ihre Bejahung anscheinend ohne großes Nachdenken erfolgte, ließ mich vermuten, dass das Pilgern für sie eine natürliche Art der Urlaubsgestaltung war. Diese Beobachtung hat mich dazu motiviert, wissenschaftlich im Rahmen meiner Abschlussarbeit zu untersuchen, ob das Pilgern tatsächlich als neuer Trend im Bereich Freizeit und Urlaub anzusehen ist.

Im Rahmen der kulturanthropologischen Betrachtung des Phänomens legte ich den Fokus auf folgende Fragestellungen: Erstens: Was sind die Gründe für die gegenwärtige Popularität des Pilgerns, und warum gewinnen Wallfahrten heutzutage, auch unter jungen Menschen, an Bedeutung? Zweitens: Welche Merkmale und Eigenschaften kennzeichnen die moderne Form des Pilgerns und wie unterscheidet sie sich von früheren Traditionen? Und drittens: Inwiefern spielt der religiöse Hintergrund beim heutigen Pilgern eine Rolle, und welche anderen Motive sind relevant? In diesem Artikel werden persönliche Erfahrungen und Erlebnisse ethnographisch geschildert und ein Überblick über die Forschungsergebnisse geliefert. Vor meiner Teilnahme am Jakobsweg hatte ich noch nie an einer Wallfahrt teilgenommen. Obwohl ich oft wandern gehe und dachte, dass ich mir daher der möglichen körperlichen Strapazen bewusst bin, schätzte ich meine Kondition als recht gut ein. Meine Leichtwanderschuhe waren bereits eingelaufen, und mein Rucksack wog beim Abflug etwa zehn Prozent meines Körpergewichts. So weit, so gut.

Entweder durchgeschwitzt oder nass

Jedoch überraschte es mich, dass es im Hochsommer im Nordwesten Spaniens bewölkt, kühl und regnerisch war. Schon am ersten Tag merkte ich in meinem Tagebuch an, dass ich dringend eine lange Hose kaufen sollte, da ich nur eine dünne Leggings eingepackt hatte. Leider war dies in den kleinen Ortschaften entlang der Küste nicht möglich. Die meiste Zeit trug ich bereits alle Schichten, die ich dabeihatte, um mich warmzuhalten. Während des Gehens reichte das aus, aber sobald ich mich nicht mehr bewegte, fror ich. Meine Kleidung war die meiste Zeit entweder durchgeschwitzt oder aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit nass. Der mangelnde Schlaf und die körperliche Anstrengung tagsüber führten logischerweise zu einer Erkältung, die sich letztendlich zu einer eitrigen Angina entwickelte. Beim nächsten Mal werde ich definitiv besser auf meinen Körper hören und Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel Medikamente einzupacken.

Irgendwann während des Weges erreichte ich einen Punkt, an dem ich nur noch meine Schritte und meinen Atem hörte. Ich sah den Kies, den Waldboden, den Asphalt oder die Wiese vor meinen Augen, konnte sie jedoch nicht mehr aktiv wahrnehmen. Es waren wie sich ständig ändernde Bilder, die wie bei einem schnellen Umschalten auf einer Fernbedienung von einem Moment zum nächsten wechselten. Die Motive waren verschwommen, da ich nicht genug Kraft hatte, um sie zu fokussieren. Warum auch? Das feuchte Gras knirschte, wenn es mit der nassen Gummisohle in Berührung kam. Alles andere war unwichtig. Die Frage, ob es sinnvoll war, einen Fuß vor den anderen zu setzen, stellte sich nicht mehr. Es geschah automatisch. Ich bemerkte nicht mehr, dass ich meinen Beinen Anweisungen gab. Ohne es beabsichtigt zu haben, trabten sie abwechselnd am Boden und hoben sich von alleine wieder ab und schleuderten nach hinten in die Luft. Meine Knie fühlten sich an, als wären sie zu Gummi geschmolzen. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Gliedmaßen unterhalb des Beckens. Meine Hüfte bewegte sich ohne mein Zutun von links nach rechts und wieder zurück. Innerlich wiederholte ich ununterbrochen „Schritt, Schritt, Schritt …“ wie ein Mantra. Das Gewicht in meinem Rucksack schien im Takt zu springen und wieder nach unten zu fallen. Meine Fußsohlen rollten am Boden ab, als hätten sie noch nie etwas anderes getan.

Es ist schwer zu sagen, ob mein Schritt wirklich rhythmisch war, aber zumindest fühlte es sich so an. Außerdem kann ich nicht sagen, wie lange dieser Zustand angehalten hat. Einerseits bemerkte ich, dass das Licht mit der Zeit dunkler wurde und die Böden allgemein in ein graues Farbbad getaucht wurden. Auf der anderen Seite änderte sich jedoch nichts. Nicht einmal meine gebeugte Kopfhaltung, da ich außer dem jeweiligen Untergrund nichts von meiner Umgebung auf dieser Strecke wahrgenommen habe. So weit meine persönlichen Erfahrungen.

Im Rahmen der Feldforschung hat sich gezeigt, dass einer der Hauptgründe für heutige Pilgerreisen der romantische Wunsch nach einem „Zurück zu den Wurzeln“ und einem einfachen, ursprünglichen Leben ist, wie es angeblich in der Vergangenheit existierte. Die Sehnsucht nach einer Zeit vor der Dominanz der Technologie auf globaler Ebene, und als der eigene Horizont noch überschaubar war, ist weit verbreitet. Das Verlangen nach Natur­erlebnissen, der Reduzierung von materiellen Besitztümern und dem Verzicht auf technische Geräte ist in der Gesellschaft spürbar. Menschen, die sich freiwillig für eine Pilgerreise entscheiden, streben oft nach einer Flucht aus dem Alltag und dem Eintauchen in eine kontrastreiche Gegenwelt. Sie suchen häufig nach den wahren Werten im Leben. Abenteuerlust, Wanderlust und Reiselust allein kennzeichnen jedoch nicht unbedingt den Wunsch nach einer Pilgerreise, da ihnen „das gewisse Extra“ fehlt. Dieses kann entweder eine Mischung aus Wandern mit religiösem oder spirituellem Hintergrund sein oder eine Identitätssuche während des Gehens beinhalten, die sich oft auf offene Fragen über das eigene Leben oder die Persönlichkeit der pilgernden Person bezieht. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen einer einfachen Wanderung und einer Pilgerreise ist die Identifikation mit einer bestimmten Art des Reisens. Beim Pilgern gehören beispielsweise Erkennungszeichen oder ein Pilgerausweis dazu.

Konzentration auf das „Innere“

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass diese Aspekte beim Pilgern im Vergleich zum Alltagsleben intensiver wahrgenommen, beachtet und beobachtet werden. Ein Grund dafür liegt in der stärkeren Konzentration auf das „Innere“, da es während des Gehens am Weg relativ wenige Ablenkungen gibt. Dadurch lernen viele Menschen wieder, sich mit sich selbst und ihrem Körper auseinanderzusetzen. Auch das Grübeln über alltägliche Entscheidungen fällt beim Pilgern weg, weil es oft nur eine begrenzte Auswahl an Essens- oder Schlafmöglichkeiten gibt. Dadurch entsteht Raum, um die Gedanken schweifen zu lassen und sich anderen Themen zuzuwenden, die im Alltag möglicherweise weniger Aufmerksamkeit erhalten. Dies führt zu einer verstärkten Wahrnehmung der Sinne während des Pilgerns, die in der Fachliteratur oft als „‚Kick‘, ‚Camino Kick‘“ „Camino Feeling“ oder „Scheinwelt“ umschrieben wird. Es hat sich auch herausgestellt, dass Pilgerreisen durch ex­treme Dualismen in verschiedenen Bereichen gekennzeichnet sind, die die behandelten Dimensionen betreffen. Es gibt einen ständigen Wechsel zwischen Höhen und Tiefen, der innerlich und körperlich nachhaltig beobachtbar und erlebbar ist. Der Weg ist theoretisch vorgegeben, ähnlich wie bei einer Achterbahnfahrt, und man hat wenig Einfluss darauf – es sei denn, man entscheidet sich bewusst, davon abzuweichen. Sobald man jedoch aufgesprungen ist, gibt es kein Zurück mehr, sozusagen keine Bremsen. Selbst wenn man sich einer Gruppe anschließt, bleibt man letztendlich sich selbst überlassen und muss seine eigenen Aufgaben bewältigen, die einem niemand abnehmen kann. Man fühlt sich gefangen in einem Korsett aus Bauchgurt, Schulterriemen eines Rucksacks oder einem Sicherheitsgurt. Gleichzeitig wird dieses Gefühl der Enge mit großer Freiheit assoziiert. Man ist der (Pilger-)Reise ausgesetzt und lässt sich treiben, ohne genau vorhersagen zu können, was einen erwartet. Aufgrund der Unvorhersehbarkeit ähnelt eine Wallfahrt meinem Verständnis nach einer Fahrt in einem Freizeitpark oder einem Spiel. Geleitet von Angst und Überraschung fragt man sich: „Was kommt als Nächstes?“ Am Anfang erfordert es Überwindung, aber sobald man sich auf das Abenteuer einlässt, bereitet es ekstatisches Vergnügen. Die entflammte Freude kann jedoch auch in Verzagtheit und Schmerz umschlagen. Aus diesem Grund trägt meine Masterarbeit den Titel „Pilgern 3.0 als Achterbahnfahrt der Gefühle“. Die Gründe für das Pilgern haben sich seit jeher nur teilweise verändert. Der Faktor der Freiwilligkeit ist sicherlich ein neuer Aspekt. Das Motiv der Abenteuerlust hingegen existierte schon immer. Das Bedürfnis nach einer intensiven Naturerfahrung ist zweifellos ein Phänomen der Neuzeit. Dieser ausdrückliche Wunsch, wieder näher an der Natur zu sein und mit ihr zu leben, geht wahrscheinlich mit der „Verhäuslichung“ der Menschheit einher. Personen, die sich im privaten oder beruflichen Leben oft ausgelaugt fühlen, lassen sich entweder auf eine neue Extremsituation ein, um ihre Grenzen auszutesten und/oder ihre persönlichen Limits zu erreichen, oder sie möchten „das Gaspedal loslassen“ und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Oft sind es mehrere gebündelte Gründe, die eine Person zu einer Pilgerreise antreiben. Deshalb gibt es auch Pilger*innen, die nicht rational erklären können, warum sie unterwegs sind.

Metapher für das Leben

Das Ziel beim Pilgern hat sich im Laufe der Zeit eindeutig von einer sakralen Stätte, wie zum Beispiel der Kathedrale in Santiago, hin zur Auffassung entwickelt, dass „der Weg selbst das Ziel ist“. Dies wird beispielsweise dadurch bewiesen, dass es sich viele Pilger*innen bei der Ankunft am Platz gemütlich machen und nicht unbedingt in die Kirche eintreten. Darüber hinaus habe ich noch nie von jemandem, den ich nach dem Pilgern befragt habe, Schilderungen über den sakralen Endpunkt gehört, es sei denn, ich habe gezielt danach gefragt. Das euphorische Erzählen der Pilgerreise schilderte immer nur Erlebnisse, die auf dem Weg geschehen sind. Zusätzlich setzen sich viele Menschen ein persönliches Ziel, das nicht unbedingt mit einem religiösen Hintergrund verbunden ist. Oft wird der Weg daher als Metapher für den Lebensweg angesehen, der Höhen und Tiefen durchläuft. Beide Komponenten sind wichtig, denn ohne ein festgelegtes Ziel ist der Weg oder die Richtung nicht klar.

Ein Wechselbad der Gefühle scheint beim Pilgern mehr als einmal stattzufinden. Hochgefühle und Niedergeschlagenheit liegen sehr nahe beieinander und überlappen sich immer wieder gegenseitig. Auch kulturwissenschaftlich relevant ist die Feststellung, dass nach dem Pilgern alle Sorgen, Ängste und Qualen, die während der Pilgerreise auftraten, vergessen oder nicht mehr angesprochen werden. Keine der befragten Personen kann behaupten, dass ihre Wallfahrt durchgehend einfach gewesen sei und es keine kritischen Situationen gegeben habe. Trotzdem erinnert man sich im Nachhinein nur daran, wie wunderbar die Zeit auf dem Weg war. Ich habe von Menschen, die Abschnitte des Jakobswegs gepilgert sind, immer nur folgende Aussage in verschiedenen Formulierungen gehört: „Die Reise war die beste Erfahrung überhaupt. Ich möchte sie unbedingt wiederholen!“

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