Wirklich systemisch?

Warum das Bashen älterer Pfarrer nicht hilft – eine Antwort auf Angela Rinns Kolumne „Dementoren im Pfarrhaus“
Premiere des Harry Potter Films „Heiligtümer des Todes“, Teil 2 am 11. Juli 2011 in London u.a. mit Autorin JK Rowling.
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Premiere des Harry Potter Films „Heiligtümer des Todes“, Teil 2 am 11. Juli 2011 in London u.a. mit Autorin JK Rowling.

Am vergangenen Freitag beklagte Angela Rinn in ihrer Kolumne, dass ältere Pfarrer, die die Pensionierung schon im Blick haben, den jungen Vikar:innen und Pfarrer:innen häufig durch destruktive Einstellung und wenig Hilfe im Alltag den Berufseinstieg vergällen. Werner Busch, Pfarrer an der Katharinenkirche in Braunschweig, findet die Erwägungen der Herborner Professorin wenig hilfreich.

Ich hangele mich an ein paar Zitat-Lianen durch das brüchige Gestrüpp dieses ausgetrockneten Lamentier-Dschungels über die frustrierten alten Männer im Pfarramt. Nach Meinung von Angela Rinn machen sie den jungen Leuten, die dankenswerterweise noch unseren Beruf ergreifen möchten, das Leben schwer. Existenziell ist das Thema wohl für alle, die beruflich in unserer Kirche arbeiten. Du bist vielleicht selber potenziell so einer oder hast mit Exemplaren zu tun, die in der Tat so sind. Die Zeit und die Entwicklung rasen. Das scheint vieles dringlich zu machen, gewiss. Aber werden wir dieser Dringlichkeit mit einseitigen Schuldzuweisungen gerecht?

In mindestens zweifacher Hinsicht bildet Martin Luther die Chancen und Abgründe der Berufsbiografien von Geistlichen gewissermaßen modellartig ab. Am Ende war auch er erschreckend verbittert, teilweise bösartig (siehe seine Judenschriften). Sowas kommt von sowas, wenn freie Christenmenschen sich selbst oder andere zu etwas hochjazzen, das mehr sein soll als nur ein fehlbarer Mensch. Das kann nicht gut gehen, auch wenn es so hoffnungsvoll beginnt wie bei dem klugen, mutigen, glaubens- und lebensfrohen Wittenberger Mönchlein. In den Zukunftsdebatten herrscht nach meinem Eindruck viel Überforderung. Überforderung im Aggregatzustand des Frusts über die verkorksten Alten oder der seligen Entwicklungsfreudigkeit der scheinbar noch unbelasteten, guten Jungen. Das „Gehype“ bleibt mir so oder so fremd. Zeitdruck, Ungeduld und Unerbittlichkeit passen für meinen Geschmack nicht gut zu dem Evangelium, das einen tiefen und langen Atem hat.

In einem großen Moment jenseits aller Altersdepression hat Dr. Martinus kurz vor seinem Tod auf einem Notizzettel etwas hinterlassen, das den Blick und das Herz weiten kann: „Den Vergil kann in seinen Werken niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte oder Landwirt gewesen; den Cicero in seinen Briefen (so stelle ich mir’s vor) versteht niemand, wenn er nicht zwanzig Jahre in einem hervorragenden Staatswesen sich betätigt hat; die Heilige Schrift meine niemand genügend geschmeckt zu haben, er habe denn hundert Jahre das Leben ihrer Propheten gelebt. Es ist ein Wunder mit Johannes dem Täufer, mit Christus, mit den Aposteln. Versuche du nicht, diese göttlichen Werke mit deinem Verstand zu ergründen, sondern bete gebeugt ihre Spuren an. Wir sind Bettler, das ist wahr!“ Oder kurz gesagt, wie es auf einer Spruchkarte in meinem Arbeitszimmer steht: "Kaum fängt man an, was zu begreifen, ist die Dienstzeit abgelaufen."

Einerseits, andererseits

Trotz aller aufreibenden Schrumpfungs- und Umbaudebatten empfinde ich den Reichtum unseres Glaubens, der Theologie und der Optionen, die von dort kommen, als derart unermesslich und reizvoll, dass ich häufig bedaure, nur noch elfeinhalb Jahre Dienstzeit vor mir zu haben. In anderer Hinsicht wiederum kommt mir diese vor mir liegende Etappe dann wieder mehr als ausreichend vor. An manchen Tagen fühle ich mich ernüchtert, genervt, ausgelaugt und kann mich gut auf den Ruhestand freuen. Ich glaube, das ist menschlich.
Angela Rinn hat das besondere Glück, sich als Professorin beruflich mit wahrscheinlich größtenteils entwicklungshungrigen jungen Menschen umgeben und ihnen in die Berufsbiografie helfen zu können. Eine tolle Alltagssituation, die sich von vielen im Gemeindepfarramt unterscheidet! Trotzdem sammelt sie einen erheblichen Frust über ihre gleichaltrigen Kollegen, die sie mit dem Begriff "Dementoren" etikettiert. In einem
digitalen Harry Potter-Lexikon werden sie als „seelenlose Wesen“ beschrieben: „Sie sind in der Lage, Menschen einen Kuss zu geben und saugen ihnen damit die Seele aus dem Leib. Das hat zur Folge, dass man dem Verstand und allen Gefühlen beraubt wird und nur noch als leere Hülle weiterlebt. Dementoren besitzen einen rasselnden Atem, bewegen sich schwebend fort und verbreiten mit ihrem Erscheinen Kälte, düstere Gedanken und eine unheimliche Stimmung.“[1] Beim Lesen dieser Titulierung stockt auch mir der Atem. Irgendwie kämpfen wir wohl alle mit diesem Elefanten im Raum. Aber gibt es wirklich so viele Problembären, dass das Phänomen systemisch ist? Ich weiß es nicht, sehe nur mein Umfeld und zweifle.

PS: Zuletzt noch ein Filmzitat leider unbekannter Herkunft, dass meinen Umgang mit dem sympathischen Jungvolk seit Jahren mitprägt, ohne theologische oder futuristische Pathos-Schwüle: "Nehmt den jungen Leuten nicht den Mut. Den sollen sie von ganz alleine verlieren."

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