Wahrheit nur mit Moral

Warum alte Glaubensformeln heute neu verstanden werden müssen
Mohnblume im Kornfeld
Foto: picture-alliance
Getreidefeld mit einer Mohnblume bei Bad Wörrishofen im schwäbischen Landkreis Unterallgäu, 8. Juni 2023.

Vor einigen Wochen plädierte Eberhard Pausch auf zeitzeichen.net vehement für den sogenannten „offenen Protestantismus“ und erfuhr dafür Kritik. Die Theologin Angelika Nothwang stützt Pauschs liberalen Ansatz, und erläutert, warum sie nur auf diesem Weg glauben kann und will.

Obwohl ordiniert, spreche ich das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis im Gottesdienst mit einem inneren Anmerkungsteil: Beim „Vater“ denke ich ans Vaterunser und die uns zugesagte Gotteskindschaft. Die „Allmacht“ muss ich mir deuten, als allmächtige Liebe zum Beispiel, aber dann weiß ich zugleich, wie machtlos Liebe manchmal ist. Auf den Schöpfer des Himmels und der Erden vertraue ich, aber sicher nicht so, wie es ein Kreationist von mir erwarten würde.

„Geboren von der Jungfrau Maria“ – das muss ich mir feministisch-theologisch deuten, ganz sicher jedenfalls verstehe ich diese Formulierung nicht biologisch. Daran hindert mich nicht nur die allgemeine Erfahrung, sondern auch die Frauenfeindlichkeit, die mit der Verehrung der Jungfrau verbunden war und ist.

Große Lücke

Und wenn die Rede davon ist, dass Jesus „aufgefahren in den Himmel“ sei, dann wünsche ich mir, ich könnte die christliche Ikonografie hinter mir lassen und zu einem wirklich metaphorischen Verständnis durchdringen. Aber wo ist er dann? Und wird er kommen? Daran möchte ich festhalten, allein schon, weil unsere Welt so furchtbar ungerecht ist – aber man gestehe mir bitte zu, dass diese Hoffnung nach 2000 Jahren Christentum manchmal etwas abgestanden ist.

Zu meinem inneren Anmerkungsteil gehört auch der Hinweis auf eine große Lücke des sogenannten Apostolischen Glaubensbekenntnisses, das Fehlen des kleinsten Hinweises auf die Botschaft des Juden Jesus von Nazareth, der gerade nicht bereit war, sich als göttlich oder auch nur gut verehren zu lassen: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein!“ Der ganz ohne die Vorstellung vom Sühnetod damit rechnete, dass Gott Schuld vergibt, allein aus Liebe.

Mein Geständnis also ist, dass ich sicher nicht „exakt dies“ bete, was Florian Kühl betet. Man kann wohl überhaupt fragen, ob ein Gebet mit innerem Anmerkungsteil noch ein Gebet ist. Und wenn ich schon beim Gestehen bin: Ich glaube auch durchaus nicht alles, was in den Bekenntnisschriften steht, so wie es Florian Kühl von allen „Ordinierten vom Dorfpfarrer über die Regionalbischöfin bis zum Landesbischof“ in seinem Text auf zeitzeichen.net erwartet.

Fast eine Blasphemie

Aufgewachsen in einem gottlob demokratischen Staat, zu dem die Bundesrepublik mit alliierter Hilfe geworden war, vor dem Hintergrund der Schrecken des 20. Jahrhunderts, ist mir der Gedanke, dass „alle Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt sind“ (so Confessio Augustana Artikel 16), unmöglich, und ich empfinde ein Ritual wie die Krönung des englischen Königs mit dem von Gott hergeleiteten Anspruch schon fast als Blasphemie.

Ich glaube nicht an die Erbsünde in dem Sinn, dass „nach Adams Fall alle Menschen, so natürlich geborn werden, in Sünden empfangen und geborn werden“. Adam und Eva sind für mich exemplarische Gestalten, keine Vorfahren, Sexualität ist kein Synonym für Sünde, und ich muss auch nicht darüber nachdenken, ob „in Vitro“ gezeugte Kinder Anteil an der Erbsünde haben, wie ich es in meinem Studium noch erlebt habe. Und so schlimm das Schicksal auch gewesen wäre, wenn ich meine Kinder früh verloren hätte – die Sorge, ob sie als ungetauft Verstorbene von der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen wären, hätte ich nicht gehabt.

Überhaupt: Hölle und Teufel… In den Bekenntnisschriften sind sie wie selbstverständlich vorausgesetzt. Die christliche Ikonographie hat dafür drastische Bilder gefunden und vielen Menschen Angst gemacht. Dennoch: Für meinen Glauben sind sie nicht mehr relevant, auch wenn ich neuerdings fast bedauere, dass ich nicht an die Hölle glaube – als Ort für diejenigen, die anderen die Hölle auf Erden bereiten.

Gehöre ich noch ins „Wir“?

Ob ich nach diesem Geständnis überhaupt noch Teil der Kirche sein kann? Gehöre ich in dieses große Wir, von dem Florian Kühl spricht? Habe ich mir die Ordination „erschlichen“? Wenn ich Florian Kühl ernst nähme, müsste ich wohl austreten. Er verlangt etwas von mir, was mir nicht (mehr) zu Gebote steht: „eine feste Zuversicht, ein großes Vertrauen darauf, dass es stimmt, was wir im Evangelium lesen, in den Predigten hören und selbst weitersagen“.

Hat Florian Kühl noch nie die Erfahrung gemacht, dass ihm da doch ein bisschen viel abverlangt wurde in Predigten? Wie deutet er biblische Wundererzählungen? Wie geht er mit widersprüchlichen Darstellungen in den Evangelien um? Schrie Jesus am Kreuz seine Gottverlassenheit heraus – oder war er Herr des Geschehens, unbeeindruckt von Schmerz und drohendem Tod? Schließlich die grundsätzlichste Frage: Verlässt Florian Kühl sich auch sonst einfach auf das, was andere ihm sagen? Als Historiker müsste er doch gewohnt sein, historische Texte und Zeugnisse kritisch zu hinterfragen. Schließlich ist die Geschichte voll von gefälschten Urkunden, von Legenden, die erzählt wurden, um etwas zu legitimieren. Und gilt nicht der Zeitzeuge als natürlicher Feind des Historikers, eben weil er meint, das eigene Erleben bedürfe keiner kritischen Nachfrage?

Laut Kant sollten Menschen selbst fragen, hinterfragen und sich ein eigenes Urteil bilden. Dass sie dabei irren können, versteht sich von selbst. Aber sollte deswegen dieser Anspruch der Aufklärung in der Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition nicht gelten? So offen würden das nur wenige vertreten. Immerhin betreiben wir an den Evangelischen Fakultäten in Deutschland immer noch historisch-kritische Bibelwissenschaft, ordnen Texte historisch ein, gehen den Spuren menschlicher Verfasser*innen nach und beleuchten in der Kirchengeschichte auch Prozesse, die offensichtlich weniger mit dem Wirken des Geistes Gottes als mit menschlichem Machtstreben zu tun haben. Offiziell also gilt in der evangelischen Kirche der Anspruch der Aufklärung, aber immer wieder wird deutlich, dass es da eine Grenze gibt.

„Geneigt zu seiner Secte“

Der Kirchenkritiker Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) stellte einst süffisant fest, dass religiöse Zeitgenossen verschiedener Konfession und Religion sich zwar zum Anspruch der Aufklärung bekannten, sich dann aber merkwürdigerweise immer der eigenen Herkunftsreligion zuwandten:

„Man darf sich nur die Gelehrten selbst zum Beyspiele vorstellen, wie mächtig die Vorurtheile der Kindheit und angeerbten Religion über die Menschen sind. Diese Leute wissen ja wohl mehr, was zur Beurtheilung der wahren Offenbarung gehört, als der gemeine Mann davon weiß. Es fehlt ihnen zum Theile an keinen Hülfsmitteln der Einsicht. Sie wollen es auch mit allem Fleiße untersuchen; und man müßte lieblos handeln, wenn man glaubte, daß sie wider besser Wissen und Gewissen redeten, wenn sie nach solcher Untersuchung bekennen, von der Wahrheit ihrer Religion völlig überzeugt zu seyn. Nein, sie mögen größten[t]heils ehrliche Leute seyn, und von Grunde ihres Herzens glauben. Aber ein jeder findet denn doch, beym Beschlusse seiner Prüfung, die Religion und Secte, worinn er erzogen worden, die beste und einzig wahre zu seyn. (…) Einem jeden ist seine Religion und Secte, in der Kindheit, bloß als ein Vorurtheil, durch unverstandene Gedächtniß-Formeln und eingejagte Furcht für Verdammniß, eingeprägt worden: und man hat ihn glauben gemacht, er sey durch eine besondere göttliche Gnade von solchen Eltern in einer seligmachenden wahren Religion geboren und erzogen. Das macht einen jeden geneigt zu seiner Secte; und wenn es denn bey reiferen Jahren zur Untersuchung der Wahrheit kommt, so wird die Gelehrsamkeit und Vernunft selbst zu Werkzeugen gebraucht, dasjenige zu erweisen und zu rechtfertigen, was sie schon zum voraus wünschten wahr zu finden.“  (Aus: Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten, 1774 – ganzer Text siehe hier)

Während Reimarus Erwählungsbewusstsein und die Furcht vor ewiger Verdammnis als Motiv für das Festhalten an der eigenen Religion nennt, ist Gotthold Ephraim Lessing etwas freundlicher. Für ihn ist es die durch die Vorfahren erfahrene Liebe, die die von ihnen vermittelte Religion beglaubigt. Die Ringparabel lässt die Wahrheitsfrage offen. Alle Religionen können nebeneinander bestehen bleiben, sofern sie denn das Potential haben, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen.“

Warum kann ich selbst mich nicht einfach darauf zurückziehen, dass ich eben glaube, was mir von meinen Eltern, in meinem evangelischen Kindergarten, im Religions- und Konfirmandenunterricht und in meiner Heimatgemeinde vermittelt wurde? Um es gleich vorweg zu nehmen: Es hat jedenfalls nichts mit mir nicht erwiesener Liebe zu tun, wie man vor dem Hintergrund des Nathan annehmen könnte. Warum reicht mir erfahrene Liebe nicht zur Beglaubigung? Warum bestehe ich auf dem Recht des Zweifels, vielleicht sogar mit Hannah Arendt auf der Pflicht zum Ungehorsam?

Fürsorglicher Antisemit

In meiner Familie gab es einen nach den Erzählungen derer, die ihn kannten, sehr liebevollen Urgroßonkel, Pfarrer, engagiert in der Inneren Mission, dann Professor an der Wiener evangelischen Fakultät und in der Nazizeit Dekan dieser Fakultät. Von seinen Studierenden bekam er wegen seiner Fürsorglichkeit den Beinamen „Papa“, und in der Familie hat er sich ein Denkmal gesetzt, weil er seine Nichte, deren Mann und die vier Kinder bei sich wohnen ließ, nachdem deren eigene Wohnung beschlagnahmt worden war. Darüber hinaus unterstützte er die sechsköpfige Familie und die Eltern seiner Nichte auch finanziell.

Praktizierte Nächstenliebe also, ein Zeugnis seines christlichen Glaubens. Allerdings erfuhr ich im Lauf der Jahre auch, dass dieser verehrte Großonkel ein Antisemit war, engagiert am „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Nach dem Krieg führte er das Schicksal der Juden darauf zurück, dass Juden Jesus nicht als Messias anerkennen. Antisemitismus und christlicher Antijudaismus verbinden sich bei ihm.

Das Erschrecken über diesen Zusammenhang prägt mich bis heute – und so geht es ja vielen in der evangelischen Kirche, denn mein Urgroßonkel war mit dieser unseligen Verbindung nicht allein. Nach 1945 gab es Aufführungen der Matthäus-Passion, in denen der Chor „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ nicht gesungen wurde. Menschen haben begonnen, sich intensiver mit den jüdischen Wurzeln des Christentums zu beschäftigen, haben angefangen ernst zu nehmen, dass Jesus ein Jude war. Und sie haben ein Gespür dafür entwickelt, dass es eine antijüdische Tradition schon im Neuen Testament, erst recht aber im Laufe der Kirchengeschichte gibt. Statuen von (blinder) Synagoge und (triumphierender) Kirche, Schmähplastiken wie die Wittenberger Judensau geben davon ein beredtes Zeugnis – und eben auch die antijüdischen Schriften Martin Luthers.

Lieblose Theologie

Wer sie liest, begegnet leider einer verbohrten, engstirnigen, totalitären Figur, die weder argumentieren kann noch will. Auch im Streit mit Erasmus von Rotterdam zeigt sich dieser unsympathische Zug Martin Luthers: „Ich habe in diesem Buch nicht Ansichten ausgetauscht, sondern ich habe feste Behauptungen aufgestellt und stelle feste Behauptungen auf. Ich will auch keinem das Urteil überlassen, sondern rate allen, dass sie Gehorsam leisten.“ Klingt nach päpstlichem Anspruch, lange bevor in der katholischen Kirche die Unfehlbarkeit des Papstes zum Dogma erhoben wurde.

Während Erasmus von Rotterdam die Vielfalt biblischer Aussagen hinsichtlich des freien Willens des Menschen wahrnimmt und von einem „unergründlichen Irrgarten“ spricht, ist für Luther alles ganz einfach. Die Bibel wird in der Reformation zwar offiziell zur alleinigen Basis des Glaubens der Christen – aber doch gelesen vor dem Hintergrund einer neu entstehenden Tradition. Gerade im Verhältnis zum Judentum wird daraus eine lieblose Theologie, deren Wirkmacht neuerdings Sebastian Engelbrecht in zeitzeichen am Beispiel der Herrnhuter Losungen nachgewiesen hat.

Die Rückbesinnung auf den Eigenwert der hebräischen Bibel, das gewissenhafte Wahrnehmen von Entwicklungslinien des Glaubens in der hebräischen Bibel wie auch im Neuen Testament, das die historisch-kritische Bibelwissenschaft ermöglicht hat, sollte nicht wieder verschüttet werden – womöglich gar dadurch, dass man dem Vorschlag von Notger Slenzcka folgte und die hebräische Bibel als nicht mehr kanonisch betrachtete. Wir würden damit Anfragen entsorgen, die sich dem christlichen Glauben stellen. Wir müssten die Spannung zwischen jüdischer Messiashoffnung und christlichem Messiasglauben nicht mehr aushalten.

Ambivalenzen wahrnehmen

Ich verstehe Eberhard Pauschs Einsatz für einen offenen Protestantismus als Engagement für eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen Tradition und ihrer Ambivalenzen und als Ermutigung zu einer Kirche, in der Menschen offen fragen und diskutieren können, ohne dass sie befürchten müssen, ausgegrenzt zu werden.

Florian Kühl ignoriert in seiner Replik auf Eberhard Pausch Indizien für die Berechtigung von Pauschs Sorgen. Gibt es so etwas wie den finsteren Glauben selbstbezüglicher Dogmatiker, Fundamentalisten, Autoritären und Ideologen in der evangelischen Kirche etwa nicht? War Kühl nie auf einer Evangelisation, bei der die Bekehrung mit Höllendrohungen befördert werden sollte? Hat er die Verketzerung, die Rudolf Bultmann oder Dorothee Sölle entgegenschlug, vergessen? Sind ihm die Abwertungen entgangen, denen sich Menschen mit dem falschen Geschlecht oder der falschen sexuellen Orientierung gegenübersehen?

Ich bin jetzt bald 60 Jahre alt, die Frauenbewegung hat viel erreicht – aber immer noch stoße ich zuweilen auf Texte, in denen die Frauenordination zur Debatte gestellt wird. Ein gleichaltriger Mann musste eine derartige Debatte nie ertragen.

Irgendwie erbärmlich

In der Landeskirche, aus der ich stamme, der württembergischen, wird über die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare nach wie vor in der Pfarrerschaft und im Kirchengemeinderat abgestimmt. Jeweils drei Viertel der Mitglieder müssen der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare zustimmen. Anerkennung als Mehrheitsentscheid…. – irgendwie erbärmlich.

Sowohl in der Frage der Frauenordination als auch da, wo es um die Segnung homosexueller Paare geht, steht ein fundamentalistisches Bibelverständnis im Hintergrund. Die Kontextualisierung bestimmter biblischer Aussagen unterbleibt, neuere Erkenntnisse spielen keine Rolle. In diesem Verständnis der Bibel gibt es keinen Raum für Argumentation, da gibt es nur Gehorsam, denn schließlich geht in diesem Verständnis der Bibel letztlich alles auf Gott selbst zurück.

Florian Kühl will diesen Gedanken auch auf das trinitarische und das christologische Dogma sowie die Bekenntnisschriften übertragen, wenn er deren Inhalte zurückführt auf das „Wirken des Heiligen Geistes, der die Ewigkeit in die Zeit trägt und daher sehr wohl „überzeitliche normative Bedeutung entfalten“ kann.

Kein Raum für Argumentation, nur Gehorsam – und als „Beweis“ für die Angemessenheit dieses Anspruchs muss der Heilige Geist herhalten, von dem man erstaunlich genau zu wissen meint, wo und bis wann und wie er wirkt: Immer so, dass er das Althergebrachte bestätigt, ganz sicher aber nicht in dem, was man abwertend „Zeitgeist“ nennt.

Angenehm machen

Das in der evangelischen Kirche schlimmste Beispiel für das Wirken des Zeitgeistes sind die Deutschen Christen. Ganz sicher will ich sie nicht in Schutz nehmen. Ganz sicher will ich auch die theologische Position meines Urgroßonkels nicht verteidigen. Ich will aber darauf hinweisen, dass die Lieblosigkeit theologischer Aussagen gegenüber dem Judentum schon im Neuen Testament beginnt, zum Beispiel da, wo Jesus im Johannesevangelium die Worte in den Mund gelegt werden, die Juden hätten „den Teufel zum Vater“. Und war in Martin Luthers antijüdischen Pamphlete auch nur der „Zeitgeist“ am Werke? Und: wenn wir hier (mit guten Gründen!) gerade nicht den Geist Gottes am Werk sehen: Was ist das Kriterium, mit dem wir Geist Gottes und Zeitgeist unterscheiden können?

Der der Aufklärung verpflichtete und deshalb mit Publikationsverbot in religiösen Fragen belegte Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) nennt im Nathan ein Kriterium dafür, dass Wahrheit im Spiel sein könnte: wenn die Religion die Kraft hat, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“. Vor dem Hintergrund meiner Geschichte übersetze ich mir das inzwischen so, dass ich lieblose, Menschen abwertende, diskriminierende und ausschließende Theologie nicht mit Gottes Geist in Verbindung bringe. Mir ist bewusst, dass ich dabei die Wahrheitsfrage mit moralischen Kriterien verknüpfe. Diskriminierung auf Gott zurückzuführen, wie es in fundamentalistischen Kreisen geschieht, lehne ich ab. Wenn Gott die Liebe ist, ist derart liebloses Argumentieren gegen Gottes Willen.

Wertvolles Plädoyer

Ich nehme mir also das Recht, ja, empfinde es als Pflicht, auch religiöse Aussagen zu hinterfragen. Dass antijüdische, frauenfeindliche oder homophobe Texte lieblos sind, dürfte noch relativ einleuchtend sein. Allerdings empfinde ich auch theologisches Reden, das Menschen des 21. Jahrhunderts abverlangt, ins 16. Jahrhundert zurückzuspringen, sobald sie eine Kirche betreten, als lieblos. Es bedeutet, dass sie naturwissenschaftliches Denken und historisches Bewusstsein hinter sich lassen und sich voll Vertrauen in so etwas wie eine „Heilsgeschichte“ begeben sollen, die doch oft genug eine Unheilsgeschichte war. Wer sich dieser Unheilsgeschichte bewusst ist, müsste dieses Wissen abspalten. Hier ist es für mich an der Zeit, dem johanneischen Jesuswort zu trauen, dass uns die Wahrheit frei macht. Und Wahrheit gibt es für uns eben nicht als ewig gültigen Besitz, nicht „so, so bar, so blank, als ob die Wahrheit Münze wäre“, wie es im Nathan heißt.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den Heiligen Geist, erst kürzlich haben wir Pfingsten gefeiert. Mein „frei Geständnis“ wäre wohl nach der Diktion des Pfingstliedes „O komm, du Geist der Wahrheit“ (EG 243) Ausdruck einer „schlaffen und glaubensarmen Zeit“ oder, schlimmer noch, ein Beispiel dafür, dass „Unglaub und Torheit … sich frecher jetzt als je“ brüsten. Der Heilige Geist soll in diesem Lied „Waffen“ bereitstellen, innen und außen, Freund und Feind sind klar abgegrenzt.

Meine Weltsicht finde ich in diesem Liedtext nicht wieder. Ich kann die Ambivalenzen der Kirchengeschichte nicht einfach ausblenden, trage auch eine nichtreligiöse Weltsicht durch das Leben in einer säkularen Gesellschaft in mir und erlebe den Pluralismus als positive Infragestellung von Absolutheitsansprüchen. Darum ist mir Pauschs Plädoyer für einen offenen Protestantismus so wertvoll. Der offene Protestantismus erlaubt Menschen wie mir, Teil der Kirche zu bleiben, ihre eigenen Zugänge zur biblischen Tradition zu finden – und das als Wirken des Heiligen Geistes zu deuten.

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