Überdosis Glaube

Ringen um Verstehen

Der Ausbruch aus evangelikalem Herkommen und eine Karriere als Junkie sind keineswegs die Regel, im Leben von Matt Rowland Hill indes von frappierender Schlüssigkeit. In dem bis heute währenden Versuch, ohne Heroin zu leben, stieß er irgendwann selbst darauf, doch sucht der 1984 in Südwales als ältestes Kind eines Baptistenpastors Geborene in seinem Lebensbericht Erbsünde (Original Sins) nicht nach Schuldigen. Er will bloß verstehen.

Als Kind habe er nur zwei Arten von Menschen gekannt: Erlöste und Unerlöste, Höllenfutter. Klar, dass er unbedingt „richtig“ glauben wollte. Als Jugendlicher lässt er sich taufen, verliert den Glauben, unter dem er leidet, aber rasch – wegen intellektueller Zweifel und auch, weil die Wirklichkeit das rigide Schwarzweißweltbild Lügen straft. Nichts ist gut bei den Erlösten. Die Eltern zanken erbittert, wenn auch mit Bibelzitaten. Den Bruch erlebt er zwar als traumatisch und sieht ihn doch als Erlösung.

Nach einem Internatsstipendium beginnt er ein Literaturstudium und hält sich für frei: „Schuldbewusstsein, Scham, Selbstekel – all das konnte ich streichen.“ Er glaubt, sein Leben in der Hand zu haben, auch den gelegentlichen Heroinkonsum. Doch hat hier der Wirt die Rechnung ohne sein Virus gemacht. Hill schleppt eine Last mit sich herum. Das Gefühl von Schmerzfreiheit, schreibt er, erlebte er das erste Mal auf Heroin. Dieser Reiz ist so groß, dass er doch süchtig wird, stets begierig auf den nächsten Schuss. Einen ersten Entzug macht er notgedrungen nach einer suizidalen Überdosis, in der Geschlossenen. Aber er fällt immer wieder zurück, auch während der Arbeit an seinem „memoir“, so der englische Untertitel. Und das ist schon allein wegen der literarischen Kraft weit mehr als ein authentisches Aussteigerbuch.

Auch im Schweren leicht

Hill erzählt mitreißend, aber nicht reißerisch, larmoyant schon gar nicht. Sein Ton bleibt auch im Schweren leicht, und er trifft – im Schildern der Ereignisse, darunter auch Skurriles, ebenso wie in den reflexiven Partien, so etwa in einer frühen „Bilanz seines Lebens“: „Ich war ein Einzelgänger, der sich selbst nicht ausstehen konnte. Ich sehnte mich nach Freiheit, hielt aber keine Ungewissheit aus. Das Leben erschien mir als ein einziger großer Witz, und ich nahm es ungeheuer ernst. Ich dürstete nach Liebe, und sie stieß mich ab. Das einzige Mittel zur Befreiung aus diesen Paradoxien, das ich je kennengelernt hatte, war Heroin. Bahn frei für das nächste Paradox: Ich mochte Drogen so sehr, dass ich sie nie wieder nehmen durfte.“

Eine existentielle Klemme, deren Analyse besticht, ihm aber immer deutlicher zeigt, dass er mit der evangelikalen Prägung, die nun mal auf seiner Festplatte ist, ebenso leben muss wie damit, ein Süchtiger zu sein. Es gibt günstigere Voraussetzungen, eine Wahl hat er nicht. Der Ausgang bleibt offen. Geschrieben ist Erbsünde ohne Zeigefinger, weder will er warnen noch verurteilen. Beide extremen Milieus sind gut nachvollziehbar geschildert, für dort Fremde gleichsam zugänglich, und auch, dass in beiden ein Leben möglich ist, nur dass dies jede Freiheit erdrückt: die fundamentalistische Eindeutigkeit und deren Erlösung genauso wie die Jagd nach dem umwerfenden Kick. Hill ist einer Spiegelung aufgesessen, was psychologisch nur schlüssig ist. Doch von derlei Terminologie hält er Abstand.

Es ist ein lebhaft und immens gut erzähltes Buch, sehr intim, aber dennoch nie peinlich. Und ein bisschen weise ist das beeindruckende Ringen um Verstehen auch: Er macht niemandem Vorwürfe – den Eltern nicht und nicht mal Gott, obwohl er dem gegenüber in der Pein des Zweifels nicht weniger eloquent höhnt als Hiob oder Goethes Prometheus. Doch er klagt nicht an, niemanden. Er will leben, frei und mit allen Graubereichen, die das bedeutet. Sehr gern läsen wir ein weiteres Buch von ihm, Erzählungen etwa oder einen Roman.

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