„Bis Mitte März 2020 war in Deutschland die Welt der Kultur noch in Ordnung – so hatte es wenigstens den Anschein.“ Mit diesem schönen, ordentlich Spannung aufbauenden Satz beginnt das anspruchsvolle und vielfach gelobte Buch von Natan Sznaider Fluchtpunkte der Erinnerung. Der hoch angesehene israelische Soziologe, in Deutschland geboren, packt darin beherzt eine der schwierigsten öffentlichen Diskussionen in Deutschland, ja in der westlichen Welt an: „Ist es der Holocaust, oder sind es die kolonialistischen Verbrechen, die den Archetypus für die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte darstellen?“Diese scheinbar nur rein akademische Frage wird schnell hoch politisch und diskursiv gnadenlos, wenn man ihre naheliegenden Weiterungen betrachtet, also etwa: Werden ob des starken Holocaust-Gedenkens die Verbrechen der Kolonialzeit verdeckt? War die Kolonialzeit die Ursünde des Westens und die Shoah nur eine Art Weiterung dieses riesigen Verbrechens in Europa selbst? Sind die Millionen (schwarzen) Opfer des europäischen Kolonialismus den (weißen) Europäern egal oder jedenfalls unwichtiger als die Millionen (weißer) Ermordeter der Shoah? Ist Israel ein Projekt europäischer (weißer) Kolonialisten auf Kosten nicht-weißer Nicht-Europäer? Ja, ist Israel also de facto ein rassistischer Apartheid-Staat?
In den westlichen Staaten, vor allem in Frankreich, aber auch in afrikanischen und nahöstlichen Ländern sind diese Fragen nicht nur in akademischen Kreisen zum Teil seit Jahrzehnten von großer Dringlichkeit, wie Sznaider eindrucksvoll zeigt. In Deutschland zündete diese Debatte aber erst richtig mit dem Eklat um den 2020 als Eröffnungsredner des Kulturfestivals Ruhrtriennale vorgesehenen kamerunischen postkolonialistischen Theoretiker Achille Mbembe. Zwar wurde die Ruhrtriennale aufgrund der Covid-Pandemie abgesagt, aber nachhaltig blieben der Protest gegen und die Debatte um Mbembe. Ihm wurden, kurzgefasst, Antisemitismus, Israelfeindschaft und Relativierung des Holocaust zugunsten der Erinnerung an den Kolonialismus vorgeworfen – ganz im Sinne der oben aufgeworfenen Fragen.
Es gehört zu den großen Stärken Sznaiders in seinen „Fluchtpunkten“, dass er die Debatte um Antisemitismus und Kolonialismus sehr gelehrt, sensibel und diskurshistorisch genau aufschlüsselt, und zwar auch in dem, was nicht gesagt, aber vielfach eben doch gemeint oder unterstellt wird. Verständlich wird dabei auch, warum diese Debatten so leicht emotional zünden: Es geht um grundsätzliche Prägungen und Weltanschauungen. „Für viele europäische und westliche Denker ist der Holocaust das größte Verbrechen in der europäischen Erinnerung. Außerhalb Europas jedoch und gerade dort (wie zum Beispiel in der arabischen Welt und Afrika), wo die Folgen des Kolonialismus wirtschaftlich und politisch am heftigsten zu spüren sind, stehen die Erinnerungen an kolonialistische Verbrechen im Zentrum“, so Sznaider. „Kann es sein, dass das ‚eigene‘ Leid nicht verallgemeinert werden kann? Und wenn diese beiden so genannten ‚Narrative‘ aufeinandertreffen, dann konkurrieren sie nicht nur miteinander, sondern sind oft auch in einer Weise konnotiert, dass jegliche Form des Vergleichs die eigene Erfahrung herunterspielt.“
Sznaider stellt mehr Fragen, als dass er Antworten liefert. Er zeichnet eine jahrzehntelange Debatte nach und versucht, gedankliche Brücken zu bauen, sodass beides gemeinsam, nicht sich gegenseitig ausschließend, gedacht und gewürdigt werden kann: die Verbrechen der Shoah und des Kolonialismus. Wer Gleiches unternehmen will, wird an Sznaiders Werk nicht vorbeikommen.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.