Reflexion

Feldforschung in Ostdeutschland

"Ethnografie kann viel mehr sein als wissenschaftliche Methode: Sie ist eine Blickweise, die mutig und lustvoll die vielen Wirklichkeiten unserer Welt erkunden will. Ethnografie ist Poesie.“ Damit ist die Haltung der Autorin Juliane Stückrad charakterisiert. Diese Haltung prägt das gesamte Buch, das nicht die Ergebnisse von Feldforschungen im Osten Deutschlands wiedergibt, sondern erzählt, wie die Ethnografin vorgegangen ist, was sie erlebt und empfunden hat. Von der Arbeit an drei Studien erzählt sie: über die Kultur des Unmuts im Süden Brandenburgs, über die Bedeutung von Kirche in ländlichen Räumen Sachsens und über die Bedeutung sogenannter Heimatstuben als zivilgesellschaftliche Potenziale.

Die Autorin, 1975 in einer „evangelisch geprägten“ Familie in Thüringen aufgewachsen, studierte Ethnologie und Kunstgeschichte und gelangte bei archäologischen Ausgrabungen noch vor Beginn ihrer umfangreichen Feldstudien zu der Einsicht, dass Beschäftigung mit dem Anderen immer auch eine Beschäftigung mit sich selbst sei.

So unterschiedlich die einzelnen Studien auch ausfallen, benannt werden stets die Ungerechtigkeitserfahrung im Transformationsprozess nach der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland, die Demütigung durch Massenarbeitslosigkeit, der Verlust vertrauter Umstände sowie die Entwertung des in der DDR geführten Lebens. Die frühen Jahre der Transformation hatten eine prägende Kraft für die Herausbildung ostdeutscher Identitäten. Am originellsten und am bewegendsten sind die Erzählungen über Begegnungen mit Menschen, die sich durch das Interesse der Ethnografin wertgeschätzt fühlen. Fast alle erkennen schnell, dass der Grund des Besuchs zwar eine wissenschaftliche Arbeit ist, dass die Forscherin aber aufrichtig an ihrem Leben, an ihnen als Personen interessiert ist. Die Autorin fragt sich selbst, wie viel Nähe sie zulassen kann und wie viel Distanz notwendig ist, wenn sie noch über das Erlebte schreiben will. Oft überkommt sie das Gefühl, den Lebensgeschichten der Dorfbewohner nicht gerecht zu werden. Von Berufs wegen muss sie das Unfertige der Begegnungen akzeptieren. Zu einigen Gewährsleuten hält sie länger Kontakt. Aber das sind Ausnahmen.

Da sie selbst aus Ostdeutschland stammt, fällt ihr der Zugang zu den Gesprächspartnern nicht schwer. Die Schwierigkeiten liegen ganz anderswo: In lauten Bierzelten zum Beispiel kann sie sich nicht unterhalten und ihr Tonbandgerät nicht laufen lassen. Berührungsängste hat sie nicht. Sie besucht Dorffeste, denen sie große Bedeutung für den Zusammenhalt der Dorfbewohner beimisst. Sie ermöglichen den Bewohnern, ihre lokale Identität zu inszenieren und sich gegenseitig Zusammengehörigkeit zu bestätigen. Die Feldforscherin nimmt an besonderen Gottesdiensten teil und lädt sogenannte Kirchenferne dazu ein. Sie achtet Fleiß und Durchhaltevermögen von Menschen, die Heimatstuben einrichten, pflegen und damit das Gedächtnis der jeweiligen Dörfer bewahren und einen Raum schaffen, der sich außerhalb des ständigen Wandels befindet.

Beim sogenannten kleinen Mann, besonders im Süden Brandenburgs, erfährt sie ein Maß an Bescheidenheit in den Erwartungen an ein gelingendes Leben, das ihr wichtig für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft erscheint. Auf wissenschaftlichen Tagungen erlebt sie dagegen oft, dass der Osten als Abweichung von der Norm beschrieben wird, der Westen als Normalität, der Osten als Ausnahme. Das heißt für die Autorin, dass die Wahrnehmung des Ostens selbst einer kritischen Betrachtung unterzogen werden muss.

Ihr eigenes Vorgehen reflektiert sie ständig. Sie weiß, dass sie als Ethnologin mit ihrer Arbeit das Forschungsfeld beeinflusst. Diese Genauigkeit und die Empathie ihrem Forschungsgegenstand gegenüber machen die Lektüre anregend, nicht nur dort, wo Leser die Forschungsergebnisse vielleicht anders interpretieren als die Forscherin.

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