Theologie nach Auschwitz

Warum Dorothee Sölle die umstrittenste Theologin der jungen Bundesrepublik wurde
Ostermarsch 1993: Die evangelische Theologin Dorothee Sölle (links) auf dem Weg zur Abschlusskundgebung.
Foto: epd
Ostermarsch 1993: Die evangelische Theologin Dorothee Sölle (links) auf dem Weg zur Abschlusskundgebung.

Am 27. April jährt sich der 20. Todestag der Theologin Dorothee Sölle. Mit ihrer frühen Theologie war sie die große Stören­friedin im Hause von Theologie und Kirche. Es ist unverkennbar, dass sie ihre Inspirationen durch die in den USA entwickelte Gott-ist-tot-Theologie bekommen hatte. Der Praktische Theologe Albrecht Grözinger erläutert, warum.

Im Juli des Jahres 1965 sagte eine damals weithin unbekannte Theologin auf dem Evangelischen Kirchentag in Köln: „… wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht.“ Dieser Satz sollte Theologie- und Kirchengeschichte schreiben, und die Frau, die diesen Satz sagte, wurde innerhalb weniger Jahre zur bekanntesten und umstrittensten Theologin der jungen Bundesrepublik Deutschland: Dorothee Sölle. Zugleich markiert dieser Satz die beiden Bezugspunkte, an denen sich die Entwicklung der frühen Theologie Dorothee Sölles ausrichtet. Es geht zum einen ganz elementar um die Gottesfrage und zum anderen darum, was der Zivilisationsbruch der nationalsozialistischen Verbrechen und insbesondere der Völkermord an den jüdischen Menschen für das theologische Nachdenken bedeuten. Im selben Jahr erschien das Buch von Dorothee Sölle mit dem Titel Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tode Gottes“Offenbar war bereits der Titel des Buches so provozierend, dass sich erst nach mehreren Anläufen schließlich der Kreuz-Verlag in Stuttgart entschloss, das Buch zu veröffentlichen.

Warum war dieser Titel so provozierend? Um dies zu verstehen, muss man einen Rückblick in die theologische und kirchliche Landschaft der frühen Bundesrepublik Deutschland werfen. Man hatte sich doch recht bequem in diesem Nachkriegsdeutschland eingerichtet. Institutionell war die Kirche durch das Grundgesetz und die diversen Landesverfassungen so stark abgesichert wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Durch die neu eingeführte Kirchensteuer verfügten die Kirchen über finanzielle Ressourcen, wie dies weder in der Weimarer Republik der Fall gewesen war, noch mutmaßlich in der weiteren Zukunft im 21. Jahrhundert der Fall sein wird.

Auch die Theologie partizipierte an diesem Boom eines neu gewachsenen Selbstbewusstseins. Institutionell war die Theologie durch Staats-Kirchen-Verträge fest in den Universitäten verankert. Aber auch im eigenen Selbstverständnis gab es keinen Anlass zu irgendwelchen größeren Zweifeln oder zu einem Sich-Selbst-Hinterfragen. Der theologische Diskurs war durch zwei große, durchaus miteinander konkurrierende Schulen geprägt: die Barth-Schule und die Bultmann-Schule. Beide Schulhäupter, Karl Barth wie Rudolf Bultmann, waren während der Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand der Bekennenden Kirche. Und die Wort-Gottes-Theologie, aus der beide herkamen, stellte das Theologische Gerüst dar für die berühmte Barmer Theologische Erklärung aus dem Jahre 1934. So sah man keinen Grund, an seiner theologischen Grundposition irgendwelche grundsätzlichen Korrekturen oder gar Revisionen vornehmen zu müssen. Der Berliner Bischof Otto Dibelius hat die damals herrschende Grundstimmung in einem klassisch gewordenen Satz so auf den Begriff gebracht: „Wir haben 1945 da wieder angefangen, wo wir 1933 aufhören mußten … Es mußte etwas Neues geschaffen werden. Und – dies Neue mußte irgendwie das Alte sein.“

Information, Diskussion, Aktion

Gewiss, es gab da auch andere Stimmen, zu denen vor allem Dietrich Bonhoeffer gehörte. Er hat in seinen späten Briefen aus dem Gefängnis sehr deutlich seinem Gefühl und Eindruck auch denkerisch Ausdruck verliehen, dass sowohl die protestantische Theologie wie auch die Kirche eines radikalen Neuaufbruchs bedürfen, dass also gerade nicht gelten könne, dass das „Neue“ irgendwie das „Alte“ sein müsse. Zwar war Dietrich Bonhoeffer zunehmend ein prominenter Namensgeber für viele der zahlreichen Kirchen und Gemeindehäuser, die damals entstanden, seine späte Theologie hat man aber weniger wahrgenommen und diskutiert. Allenfalls wurde über die Frage diskutiert, ob Bonhoeffer als Teilnehmer am politischen Widerstand gegen Adolf Hitler und das NS-Regime überhaupt in die Reihe christlicher Märtyrer gestellt werden könne.

In einer solchen theologischen und kirchlichen Gestimmtheit konnte der Satz von Dorothee Sölle auf dem Kölner Kirchentag 1965 nur eine explosive Sprengkraft erweisen: „Tod Gottes“ als theologische Kategorie? Nein danke, bei uns bitte nicht! In einer Situation, in der galt, dass das Neue irgendwie das Alte sein musste, konnte das wirklich Neue nur von außen kommen. Und so ist unverkennbar, dass die frühe Dorothee Sölle ihre Inspirationen auch durch die in den USA entwickelte Gott-ist-tot-Theologie bekommen hatte. Bei dieser Theologie, als deren Hauptvertreter Gabriel Vahanian, Paul van Buren, William Hamilton und Thomas J. J. Altizer genannt werden können, stehen im Grunde genau die beiden Themen in ihrem Zentrum, die auch die frühe Theologie Sölles bestimmen: die Kritik an den unhinterfragten Annahmen eines traditionellen metaphysischen Gottesbildes und die Erfahrung des Zivilisationsbruchs durch den Holocaust.

Sölles originärer Beitrag zu dieser Gott-ist-tot-Theologie besteht nun darin, dass sie in ihrem Buch Stellvertretung die Anregungen aus der amerikanischen Diskussion in den traditionellen Diskurs der deutschsprachigen protestantischen Theologie einträgt und erweitert. Gesprächspartner sind nun Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Nietzsche und vor allem die Christologie Martin Luthers und der nachfolgenden lutherischen Tradition. Plötzlich wird das „Fremde“ – und das scheint das eigentlich Provozierende dieses Buches gewesen zu sein – zu einem eigentlich vertrauten „Eigenen“. Im Zentrum der Theologie steht nun in der Tat nicht mehr der Gott, „der alles so herrlich regieret“, sondern der leidende, schwache Gott am Kreuz, wie dies bereits in einem Gedicht Bonhoeffers anklang: Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, / finden ihn arm, geschmäht, / ohne Obdach und Brot, / sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. / Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.

Vielleicht wäre der Widerspruch gegen eine solche nach-metaphysische Theologie nicht so vehement ausgefallen, wenn Dorothee Sölle sich in ihrem Wirken auf den theologischen Diskurs beschränkt hätte. Allein dies entsprach weder ihrem Temperament noch der internen „Logik“ ihrer Theologie. Eine solche Theologie musste praktisch werden. Und diese Praxis war das „Politische Nachtgebet“. Diese neue gottesdienstliche Form hatte ihren Ursprung auf dem Deutschen Katholikentag in Essen im Jahre 1968. In der Vorbereitungsgruppe waren damals neben Dorothee Sölle, auch Fulbert Steffensky, Heinrich Böll und die Religionspädagogin Marie Veit engagiert. Das einmalige Essener Ereignis sollte dann in der evangelischen Antoniterkirche in Köln seine kontinuierliche Fortsetzung finden. Ab Oktober 1968 fand dort in monatlicher Abfolge ein „Politisches Nachtgebet“ statt. Der Grundgedanke wie die reale Praxis des Politischen Nachtgebets war so einfach wie konsistent: Die traditionell-liturgische Form des christlichen Gottesdienstes sollte durch Elemente wie Information, Diskussion, nachfolgende Aktion erweitert werden sowie in der Regel unter einem bestimmten Thema stehen. Traditionelle Formen wie Lied, Predigt und Gebet wurden beibehalten, wobei vor allem dem Fürbittengebet eine besondere Bedeutung zukam. Als Themen für das Nachgebet können beispielhaft genannt werden: Mitbestimmung in der Wirtschaft, Paragraf 218, die „Baader-Meinhof-Gruppe“, Vietnam-Krieg, Militärputsch in Chile.

Ernsthaftigkeit und Konsequenz

Schaut man sich heute die überlieferten Protokolle und Textbeiträge des Politischen Nachtgebets an, so erstaunt die Ernsthaftigkeit und Konsequenz der Inhalte ebenso wie die liturgisch-homiletische Stimmigkeit des Ablaufes. Vielleicht hat auch dies – sicher neben der inhaltlichen Grundkonzeption – den leidenschaftlichen Widerspruch gegen das Politische Nachtgebet provoziert, weil man schlicht merkte: Hier waren keine Voodoo-Liturgen und -Liturginnen am Werk, sondern theologisch hoch reflektierte und handwerklich versierte Personen.

Doch Dorothee Sölle wäre nicht Dorothee Sölle, wenn sie diese Praxis des Politischen Nachtgebets nicht wiederum in den theologischen Diskurs eingetragen hätte. Im Jahre 1971 erschien ihr Buch Politische Theologie. Der Untertitel des Buches „Eine Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann“ ist dabei bemerkenswert. Im Jahre 1971 war absehbar, dass die Theologie Rudolf Bultmanns, der vordem selbst von etablierten Kirchenleitungen als Ketzer apostrophiert wurde, zur wohl einflussreichsten theologischen Schule der damaligen Gegenwart geworden war und die weitere kirchliche Praxis in Verkündigung, Seelsorge und Unterricht nachhaltig prägen würde. Und ausgerechnet mit dem Kopf dieser Schule legt Dorothee Sölle sich an. Sie bemängelt bei ihm nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an kritischer Reflexion – sowohl der theologischen Überlieferung wie der kirchlich-politischen Gegenwart. Vor allem beklagt sie bei der Bultmann-Schule eine individuelle Verengung des Verständnisses von Religion und des Evangeliums. Im Grunde erhebt sie in dem Buch den Anspruch, Rudolf Bultmann besser zu verstehen als er sich selbst: Seine theologische Leidenschaft für das existenzielle Gelingen eines individuellen Menschenlebens erfordere geradezu die Erweiterung der Perspektiven in den gesellschaftlich-politischen Raum hinein.

Mit ihrer frühen Theologie war Dorothee Sölle die große Störenfriedin im Hause einer Theologie und Kirche, die sich gerade nach den großen Verheerungen von nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und Zweitem Weltkrieg in der jungen Bundesrepublik Deutschland häuslich eingerichtet hatte. Und deshalb fiel der Widerspruch gegen Sölle und ihre Theologie auch heftig aus. Der damalige Präses der Rheinischen Kirche, Joachim Beckmann, hatte sich in einen geradezu leidenschaftlichen Kampf gegen Sölle verwickelt, der er vorwarf, im Grunde eine schlimmere Theologie zu vertreten als die mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden „Deutschen Christen“. Das Politische Nachtgebet war für ihn „reiner Götzendienst“, und er bedauerte in einem Brief an den damaligen Kölner Kardinal Frings, dass er – im Gegensatz zu diesem – nicht die Macht habe, das Politische Nachtgebet in der Kölner Antoniterkirche schlicht zu verbieten. Aber auch frauenfeindliche Töne waren zu hören – Kirche und Theologie waren damals noch Domänen einer Männerwelt. So spricht der alte Karl Barth einmal süffisant von der „Dame Sölle“ und in seinen Briefen betitelt er sie mehrmals als „die Dorothee“, ohne ihren Nachnamen zu nennen.

Eine Männerwelt

Doch es gab zu dieser Zeit bereits auch andere Stimmen. Ich erinnere mich daran, dass in den Vorlesungen, die ich in meinen ersten Semestern in Tübingen 1969/70 bei Eberhard Jüngel hörte, sich dieser immer wieder zwar sehr kritisch, aber auf ernsthafte Weise und auf Augenhöhe mit Dorothee Sölle auseinandersetzte.

Blickt man aus heutiger Sicht auf die Anfänge der Theologie Dorothee Sölles zurück, so erscheinen zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen die noch völlige Abwesenheit von Themen, die für die weitere Theologie Sölles bestimmend werden sollten: Feministische Theologie, Friedensbewegung, Ökologie und Mystik. Aus der Rückschau kann man sehen, dass von der frühen Theologie ein konsequenter Weg zu den späteren Themenschwerpunkten führte. Doch die frühe Theologie Sölles ist ein klassischer intellektueller Diskurs, mit den beiden Polen Metaphysikkritik und der Epocheneinschnitt, den „Auschwitz“ markiert. Es ist beeindruckend zu sehen, wie in dem legendären Gespräch, das Günter Gaus im Jahre 1969 in dem ARD-Format „zu protokoll“ mit Dorothee Sölle führte, im Grunde zwei Intellektuelle diese beiden Themen immer wieder aufs Neue umkreisten (der Beitrag kann bei YouTube abgerufen werden).

Zum anderen kann die heftige damalige Kritik an Dorothee Sölle angesichts der heute erkennbaren Bedeutung der Person und des Werkes von Dorothee Sölle nur noch skurril anmuten. Karl Barth hat einmal in einem Brief an Rudolf Bultmann sein Verhältnis zu diesem sehr schön so beschrieben: „Ist es Ihnen klar, wie wir dran sind – Sie und ich? Mir kommt es vor: Wie ein Walfisch und ein Elefant, die sich an irgendeinem ozeanischen Gestade in grenzenlosem Erstaunen begegneten. Vergeblich, daß der eine seinen Wasserstrahl haushoch emporschickt. Vergeblich, daß der andere – bald freundlich, bald drohend – mit seinem Rüssel winkt. Es fehlt ihnen an einem gemeinsamen Schlüssel zu dem, was sie sich, ein jeder von seinem Element aus und jeder in seiner Sprache, offenbar doch so gern sagen möchten.“

Diese Worte beschreiben auch das Verhältnis von Dorothee Sölle und ihren Kritikern treffend: Da steht eine Generation von Theologen, die vom Kirchenkampf geprägt war und dort ihre theologischen Grundüberzeugungen erworben hatte und davon überzeugt war, dass sich diese Theologie, die sich in der Vergangenheit bewährt hatte, auch in Zukunft bewähren würde. Und auf der anderen Seite steht eine junge Theologin, die ihrerseits fest davon überzeugt war, dass diese angeblich so bewährte Theologie brüchig geworden ist und gerade kein Fundament für die Zukunft darstellen konnte. Für diesen – die Geschichte der Kirche und Theologie in Deutschland so prägenden – Generationenwechsel steht Dorothee Sölle in prominenter Weise. 

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