„Als erstes brauchen wir Waffenstillstand“

Gespräch mit Margot Käßmann über den Krieg gegen die Ukraine, den Umgang mit Pazifisten und das umstrittene „Manifest für den Frieden“, das sie unterzeichnet hat.
Ein Bansky-Bild in der ukrainischen Stadt Irpin bei Kiew im Februar 2023.
Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Thibault Camus
Ein Bansky-Bild in der ukrainischen Stadt Irpin bei Kiew im Februar 2023.

Frau Käßmann, ein Jahr nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine ist klar: Die Pazifisten sind in der Defensive, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der evangelischen Kirche. Auch Sie werden wegen ihrer Position immer wieder angegriffen. Hat Sie diese Entwicklung überrascht?

Nein, ich kenne das seit Jahrzehnten. Ich habe mit 16 zum ersten Mal in den USA gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Auch damals wurden wir schon lächerlich gemacht. Mich überrascht allerdings der Ton der heutigen Debatte, die massive Diffamierung durch Begriffe wie „Lumpenpazifismus“ oder „Ponyhof-Theologie“. Das ist persönlich abwertend. Ich bin ja dafür, dass wir unterschiedliche Positionen haben. Aber ich erwarte von einer demokratischen und auch von einer protestantischen Debatte, dass wir den anderen respektvoll behandeln.

Der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer, der ja ähnliche Positionen vertritt wie Sie, wurde unter anderem auf der EKD-Synode heftig kritisiert. Hätten Sie ihm beigestanden, wenn Sie dagewesen wären?

Auf jeden Fall. Denn was soll ein Friedensbeauftragter der EKD anderes machen, als für den Frieden zu plädieren? Wenn er sich massiv für Waffenlieferungen einsetzen würde, würde er sein Amt nicht wahrnehmen. Ich stimme mit Friedrich Kramer in allen wichtigen Positionen überein und finde, er macht seine Aufgabe gut.

In diesem Juni findet wieder ein Kirchentag statt. Was erwarten Sie von dem Treffen in Nürnberg bei diesem Thema?

Es wird hochhergehen, dazu waren Kirchentage auch immer da. Denken Sie nur etwa an die Auseinandersetzung auf dem Kirchentag in Hannover 1983 um den NATO-Doppelbeschluss. Da wurden wir noch von Erhard Eppler, dem damaligen Kirchentagspräsidenten, aufgefordert, die lila Tücher nicht im Abschlussgottesdienst zu tragen, weil das zu politisch sei. Am Ende war das Stadion voll von lila Tüchern. Aber ganz so eindeutig wird die Positionierung 40 Jahre später wohl nicht sein.

Der Kirchentag hat unsere Veranstaltung mit pazifistischen Texten nicht ins Programm aufgenommen.

Stimmt es, dass eine von Ihnen und Konstantin Wecker angebotene Veranstaltung zum Pazifismus auf dem kommenden Kirchentag in Nürnberg abgelehnt wurde?

Ja, die Nürnberger Friedensgruppen haben eine Konzertlesung von pazifistischen Texten mit Konstantin Wecker und mir aus unserem Buch angemeldet, und der Kirchentag hat sie nicht ins Programm aufgenommen. (Dazu ein Hinweis am Ende des Textes) *

Mit welcher Begründung?

Dazu kann ich mich nicht äußern, da müssen Sie den Kirchentag befragen. Aber ich bin eingeladen an einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Frieden mitzuwirken und werde beim politischen Nachtgebet von Amnesty International predigen.

Die ukrainische Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Matwijtschuk, Trägerin des sogenannten alternativen Nobelpreises, sagt: „Frieden kommt nicht einfach, wenn ein angegriffenes Land nicht mehr kämpft. Das ist kein Frieden, sondern Besatzung.“ Dem Satz stimmen Sie sicherlich zu, oder?

Natürlich, Besatzung ist etwas anderes als Frieden. Aber die Frage ist doch, wie der Frieden ausgehandelt wird. Wie Heribert Prantl kürzlich schrieb: Verhandlungen können nicht nur herbeigebombt, sondern auch herbeiverhandelt werden. Als erstes brauchen wir einen Waffenstillstand. Und dann müsste verhandelt werden, wie ein Friede aussieht. Wenn das Besatzung bedeuten würde, würden die Ukrainer nicht zustimmen. Frieden funktioniert nur, wenn beide Seite zustimmen.

Sie fordern ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine. Das käme doch einer Unterwerfung gleich, Russland würde sehr schnell den Rest der Ukraine erobern. Wollen Sie das wirklich? 

Ich kann verstehen, dass die Ukrainer und Ukrainerinnen anders argumentieren als ich. Aber ich bin Deutsche, und wir hatten bis vor einem Jahr den Grundsatz, dass keine Waffen in Krisen- oder gar Kriegsgebiete geliefert werden. Der wurde zwar nicht immer eingehalten, was die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GEKE) regelmäßig kritisiert hat. Aber der Grundsatz galt. Nun wurde er einfach vom Tisch gewischt. Damit verlängern wir den Krieg. Jürgen Habermas hat recht, wenn er sagt, dass wir dann auch für die Menschen, die durch diese Waffen sterben, mitverantwortlich sind. 

Wie lange soll der Krieg noch gehen? Wie viele Waffen noch?

Und dennoch ist Jürgen Habermas für die Waffenlieferungen. 

Stimmt. Aber ich möchte nicht für die Toten verantwortlich sein, die wegen dieser Waffen sterben. Und ich habe das Recht, nicht immer den Forderungen des ukrainischen Präsidenten Selenskij zuzustimmen, sondern es falsch zu finden, in ein Krisen- und Kriegsgebiet noch mehr Waffen zu schicken. Wenn wir den Ukrainern unsere Waffen geben, damit sie sich verteidigen, was ihr gutes Recht ist, müssten wir künftig auch in andere Krisenregionen liefern. Nach Myanmar, in die kurdischen Gebiete, nach Syrien, an die Uiguren. Wir würden ein noch größerer Rüstungsexporteur, als wir ohnehin schon sind. 

Die eroberten Gebiete Putins blieben bei Friedensverhandlungen jetzt wohl unter der Kontrolle Moskaus. Schon jetzt werden in diesen Gebieten massenweise Menschenrechtsverletzungen festgestellt, Vergewaltigungen und Verschleppung von Tausenden von Kindern nach Russland. Das sollen die Ukrainer in den besetzten Gebieten hinnehmen?

Ich war in vielen Krisengebieten dieser Erde unterwegs, ich habe mit den von Serben vergewaltigten Frauen in kroatischen Flüchtlingslagern gesprochen. Ich weiß, welche schlimmen Folgen Krieg gerade auch für die Zivilbevölkerung hat. Und gerade deshalb frage ich: Wie lange soll der Krieg noch gehen? Wie viele Waffen noch? Auf der Münchener Sicherheitskonferenz wurden nun Streubomben gefordert. Das zeigt doch, dass der Eskalation keine Grenze gesetzt wird. Das muss durchbrochen werden. Die Frage muss lauten: Wie kommt es möglichst schnell zu einem Waffenstillstand? Mit immer mehr Waffen? Das glaube ich nicht.

Krieg ist entsetzlich und darf nach Gottes Willen nicht sein. Das war von Kindesbeinen an meine Grunderfahrung.

Was hat sie zur Pazifistin gemacht? Gibt es biografische Prägungen?

Meine Generation ist noch mit dem Narrativ unserer Eltern groß geworden, die wiederum den Krieg massiv erlebt haben. Mein Vater war 18, als der Zweite Weltkrieg begann, er wurde sofort eingezogen, kam später in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er hat den Krieg abgrundtief verachtet, war einer Sache ausgeliefert, für die er gar nicht kämpfen wollte. Und er wusste auch um seine eigene Schuld, die er im Krieg auf sich geladen hatte. Meine Mutter war Krankenschwester in Berlin, als die Stadt mit Brandbomben bombardiert wurde. Dann wurde sie nach Dänemark evakuiert, war dort zwei Jahre lang in einem Flüchtlingslager ohne zu wissen, ob ihre Eltern noch leben. Meine Großmutter und meine Tante haben in Pommern Vergewaltigung erlebt, mein Großvater wurde nach Sibirien verschleppt - und kam nie wieder. Krieg ist entsetzlich und darf nach Gottes Willen nicht sein. Das war von Kindesbeinen an meine Grunderfahrung.

Die Drohungen Putins, Atomwaffen einzusetzen, haben bei vielen wieder alte Ängste aus den 1980er-Jahren geweckt, als die Welt hochgerüstet im Kalten Krieg steckte. War das bei Ihnen auch so?

Alte Ängste? Das Thema ist ja all die Jahre aktuell geblieben, weil auch in Deutschland noch immer Atomwaffen lagern. Ich wünsche mir, dass die von der Weltkugel verschwinden. Das kann man jetzt auch wieder für naiv halten. Aber ich war mal auf Einladung des dortigen Bürgermeisters in Hiroshima. Wer die Zerstörungskraft dieser Bomben gesehen hat, muss doch alles tun, damit diese verschwinden und sie nicht als Drohpotenzial einsetzen.

Ich stimme nicht mit jedem Satz in dem Manifest überein.

Die Drohung Putins mit einem Atomkrieg spielt auch eine Rolle in dem sehr kontrovers diskutierten „Manifest für Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Sie gehören zu den Erstunterzeichnerinnen. Wie ist es dazu gekommen?

Mittlerweile haben 500.000 Menschen das Manifest unterschrieben, weil sie das Thema Verhandlungen in der Debatte stärken wollen, so auch ich. Ich stimme nicht mit jedem Satz in dem Manifest überein, aber im Grundsatz geht es mir auch darum, nicht nur über Waffensysteme, sondern auch über Verhandlungen und Waffenstillstand zu sprechen. Das ist nach einem Jahr Krieg überfällig. 

Sie stimmen nicht mit jedem Satz überein, sagen Sie. Dann lassen Sie uns in die Exegese gehen: Das Manifest nivelliert beständig den Unterschied zwischen Angreifer und Verteidiger. Da heißt es schwammig „Frauen werden vergewaltigt“, doch die Täter, die Russen, werden nicht genannt.  Es heißt, Präsident Selenskij (nur er) fordere mehr und stärkere Waffen, ein „Angriff auf die Krim“, heißt es, der ja eigentlich eine Befreiung der besetzten Krim wäre, könnte Putin mit einem „Gegenschlag“ beantworten, so als sei Putin der Verteidiger. Hätten solche Sätze Sie nicht abhalten sollen, das Manifest zu unterschreiben?

Das ist eine Exegese unter der Hermeneutik des Verdachts, die mit dem Namen Sahra Wagenknecht verbunden ist. Ich habe den Text anders gesehen, weil ich vor allem Sätze gelesen habe wie: „Die brutal von Russland brutal überfallende Bevölkerung der Ukraine braucht unsere Solidarität.“ Was ist daran falsch?

Sicher nichts, aber die von uns zitierten Formulierungen haben schon einen besonderen Klang. Das muss Ihnen als Frau des Wortes doch übel aufgestoßen sein.

Das nehme ich in Kauf. Ich hätte das Manifest nicht unterschrieben, wenn ich es nicht hätte verantworten können.

Es haben auch Menschen aus dem rechten Spektrum unterschrieben, mit denen Sie sonst wahrscheinlich keine Allianzen schließen würden. Ist das kein Problem für Sie?

Doch. Wer für den Frieden eintritt, muss sich glasklar von menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Positionen aus dem rechten Spektrum distanzieren.

Wir sollten nicht über Sieg reden, sondern über Waffenstillstand.

Das Manifest argumentiert auch damit, dass die Ukraine diesen Krieg gegen eine Atommacht nicht gewinnen könne. Der Historiker Herfried Münkler hat jüngst darauf hingewiesen, dass Nord-Vietnam und die Afghanen gegen die Super- und Atommächte USA und UdSSR gewonnen haben, ohne dass Atombomben eingesetzt wurden. Warum soll das der Ukraine nicht glücken?

Ich weiß, dass von einem „Sieg“ der Ukraine geschwärmt wird. Aber um welchen Preis? 200.000 Soldaten sind bisher -geschätzt - gestorben, 50.000 Zivilisten. Wären eine Million Tote genug „Blutzoll“? Ich finde, das ist ein schreckliches Wort.  Es gibt zudem ja auch Militärexperten, die der Ukraine keine Chance auf einen Sieg, wie immer der dann aussehen soll, einräumen. Wir sollten nicht über Sieg reden, sondern über Waffenstillstand. Es gibt doch Verhandlungen im Hintergrund, über Getreidelieferungen, über Gefangenenaustausch, es gibt also Kontakte. Diese müssen genutzt werden. Und wir sollten jedes Angebot einer Vermittlung ernst nehmen, egal ob es aus China oder aus Brasilien kommt. Aber das wird ja alles vom Tisch gewischt.

Jürgen Habermas schreibt in dem schon erwähnten Text in der Süddeutschen Zeitung, er sehe „einstweilen kein Anzeichen dafür, dass sich Putin auf Verhandlungen einlassen würde“. Worin gründet Ihre Hoffnung auf mögliche Verhandlungen mit Moskau?

Ich höre zum Beispiel aus der russisch-orthodoxen Kirche, dass sich Widerstand gegen Patriarch Kyrill formiert. Ich denke auch, dass 100.000 tote russische Soldaten in der Zivilbevölkerung dort etwas verändern und die Stimmung kippen könnte. Ich habe auf TikTok ein Video gesehen, in dem junge Menschen bei einem Konzert in Russland Sprechchöre gegen den Krieg rufen. Zudem werden die Mächte, die jetzt Waffen in den Krieg pumpen, irgendwann das auch nicht mehr tun wollen, weil auch ihre Ressourcen begrenzt sind.

Haben Sie Kontakt mit Ukrainern? Welche Reaktionen bekommen Sie auf Ihre öffentlichen Äußerungen von dieser Seite?

Ich habe Kontakt zu zwei geflüchteten Familien. Die haben vor allem Angst um ihre Männer, die die Ukraine nicht verlassen dürfen. Das halte ich angesichts dessen, dass es ja um westliche Werte wie Freiheit gehen soll, übrigens für sehr problematisch. Mich dauert das Elend dieser Familien hier. Wenn wir diskutieren, zeige ich Verständnis für ihre Forderung, dass Russland niedergekämpft werden soll. Sie entstammt dem ukrainischen Narrativ. Aber ich bitte auch um Verständnis für meine beschriebene Position aus dem deutschen Narrativ und unserer Geschichte heraus. Wir schaffen es, weiterhin respektvoll miteinander umzugehen. Aber das ist derzeit leider nicht selbstverständlich.

 

* Der Deutsche Evangelische Kirchentag hat dazu gegenüber "zeitzeichen" erklärt: „Beim Kirchentag ist für 2023 keine Programmbewerbung für eine Veranstaltung mit Margot Käßmann und Konstantin Wecker eingegangen. Eine begonnene Bewerbung einer solchen Veranstaltung in unserem Online-Meldesystem wurde nicht abgeschlossen. Frau Käßmann wird aber an einem Hauptpodium zum Thema Friedensethik und am politischen Nachtgebet teilnehmen.“

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Margot Käßmann

ist Landesbischöfin a.D. und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD. Bis 2018 war sie Herausgeberin von "zeitzeichen". Sie lebt in Hannover.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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