Illusionen

Sind sie verschwunden, hast du aufgehört zu leben
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Mein erstes E-Book ist ein Klassiker, und so liege ich mitten in Kolumbien in einer Hängematte und lese nach vielen Jahren erneut die "Verlorenen Illusionen" von Honoré de Balzac. Und hänge seinen, meinen und den Illusionen im Allgemeinen nach.

Urlaub! Und zum ersten Mal habe ich meinen Urlaubskoffer nicht mit Büchern vollgestopft. Obschon ich Verfechterin des gedruckten Wortes bin, mache ich jetzt die praktische Ausnahme: lesen light.

Mein erstes E-Book ist ein Klassiker, und so liege ich mitten in Kolumbien in einer Hängematte und lese nach vielen Jahren erneut die "Verlorenen Illusionen" von Honoré de Balzac. Und hänge seinen, meinen und den Illusionen im Allgemeinen nach. Nun, mein tropisches Ambiente beflügelt. Mit Lucien Chardon, Balzacs schönem jungen Protagonisten, mache ich mich auf den Weg aus der Provinz in sein Eldorado (so heißt übrigens Bogotas Flughafen) nach Paris. Die erste Illusion: Das Glück liegt in der Ferne.

Dabei kommt mir Janoschs Kinderbuchklassiker "Oh, wie schön ist Panama" in den Sinn. Eine Geschichte vom Aufbruch in die Fremde, von der Suche nach Exotik, die den Blickwinkel verändert und die Augen öffnet für das, was vor der eigenen Haustür liegt. Aber raubt er damit nicht auch Illusionen? Hätte ich Janosch geglaubt, wäre ich nicht nach Südamerika gereist, sondern schön daheim geblieben. Doch was wäre mir entgangen! Zwar, einige Illusionen sind perdu. Aber die neuen Eindrücke und Lebenserfahrungen machen das wett.

Doch zurück zu Balzacs Lucien Chardon, der sich gerade von seiner adligen Geliebten trennt. Die nächste große Illusion, die der ewigen großen Liebe, ist verflogen. Und auch der Traum von der großen Karriere geht flöten. Aus dem Poeten wird ein korrupter Journalist. C’est la vie. Doch während Balzac so abgeklärt vom Aufstieg und Fall des talentierten Provinzlers schreibt, hängt er selbst ein Leben lang eigenen Illusionen nach - den beiden ganz großen Illusionen: der der wahren, endlosen Liebe und der des großen Reichtums. Und als sich für Balzac endlich alles erfüllt, wird er krank und stirbt. Stoff für ein Drama.

Der Mensch lebt von seinen Illusionen. Und so wundert es kaum, dass Illusionär Oscar Wilde im Exil nicht überleben konnte. Die Familie verloren für immer, verarmt, krank und ohne Hoffnung auf Liebe (das Salz des Lebens), konnte er weder schreiben noch existieren. Ohne Illusionen war er tot, mochte er auch noch existieren.

Illusionen werden aus Gedanken geboren, aber sie sterben nicht am Denken, sondern am Leben. Behauptete Friedrich Nietzsche. Gabriel García Márquez lieferte das erzählerische Dementi dazu. Mein geliebter kolumbianischer Schriftsteller, dem ich hier auf Schritt und Tritt begegne, lässt den Liebenden Florentino Ariza in "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" so lange an seiner Illusionen festhalten, bis sie endlich Realität wird und er nach 51 Jahren des Wartens mit Fermina, der Liebe seines Lebens, glücklich ist. Die Illusion der großen Liebe! Gewiss, auch dazu hat Marquez selbst wieder ein Gegenstück geschaffen, mit seinem große Roman "Hundert Jahre Einsamkeit".

Illusionen sind Lebenselixiere. Sie animieren uns, sie treiben uns an, sie machen uns neugierig und hoffentlich menschlich. Gewiss, verlorene Illusionen sind gewonnene Erfahrungen. Glücklicherweise hält der illusionslose Zustand selten an - denn wie sagt Mark Twain: "Trenne dich nie von deinen Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben."

Angelika Hornig

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