Dieses Standardwerk evangelischer Sicht auf den Islam hat eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Dreißig Jahre ist es her, dass die Faltblattserie "Information Islam" der Vereinigten Evangelischen Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) einer breiten Öffentlichkeit Grundkenntnisse über die Religion vieler Ausländer und Gastarbeiter hierzulande nahebrachte. Die 24 Faltblätter waren so gefragt, dass sie 1990 als Buch unter dem Titel "Was jeder vom Islam wissen muss" erschienen, nunmehr auch von der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) mit herausgegeben. Von Anfang an ging es darum, ein respektvolles und differenziertes Bild vom Islam zu vermitteln und der massenmedialen Verkürzung auf einen fanatischen Islam entgegenzu-treten. Das Leitinteresse war freilich nicht nur aufklärerisch, sondern auch missionarisch: "Das Zeugnis des Glaubens für Jesus Christus kann nur überzeugend sein, wenn wir den anderen in ihrer Lebenssituation gerecht werden." 1996 wurde die fünfte Auflage überar-beitet, doch erst die vorliegende achte Auflage bietet die überfällige vollständige Neubearbeitung dieses Longsellers, eines Unternehmens, das insgesamt als geglückt erscheint. Das Buch hat in jeder Hinsicht, auch ganz wörtlich, an Format gewonnen. Aus einer überwiegend bloß theologischen und historischen Darstellung des Islam ist eine stärker interdisziplinäre Beschreibung geworden, so dass viel stärker als in den bisherigen Auflagen gesellschaftspolitische Debatten und schariarechtliche Fragen berücksichtigt werden: vom Kopftuch über das Ehe- und Familienrecht bis hin zur Bestattungspraxis in Deutschland. Die bewährte Grundstruktur des Handbuchs ist fast dieselbe geblieben. Doch ist der vierte Teil "christliche Würdigung des Islams" entfallen. Stattdessen finden sich am Ende vieler Kapitel "Hinweise und Anfragen aus christlicher Sicht", die eine ähnliche Funktion übernehmen. Ein erster, primär theologischer Teil informiert zunächst über Grundaussagen des muslimischen Glaubens sowie über Grundregeln der Lebenspraxis, deren schariarechtliche Hintergründe dank der Mitwirkung des Juristen und Islamwissenschaftlers Mathias Rohe im Redaktionsteam nunmehr viel genauer ausgeleuchtet sind als früher. Das Kapitel über "Familie und Geschlechterrollen" ist ganz neu und wertvoll, doch bleibt etwa das Thema "Homosexualität im Islam" ausgespart. Ein zweiter Teil behandelt den Islam in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen in Geschichte und Gegenwart. Besonderes Gewicht findet hier das dreizehnte Kapitel über den "Islam in der Moderne". Obwohl im Vorwort betont wird, dass das Buch eine Darstellung des Islam und nicht des Islamismus sein soll, mithin "radikale Auffassungen und Überzeugungen hier keinen Raum erhalten", geschieht eben dies in dem weitgehend neuen Kapitel. Moderner Islam wird primär als radikaler Islamismus beschrieben, von den Wahhabiten über die Muslimbrüder bis zu den Taliban. Demgegenüber treten moderne Koranhermeneutik und "islamische Wirtschaftsmethoden" leider allzu sehr in den Hintergrund. Obwohl die Mehr-zahl der Muslime heute unter 28 Jahren alt ist, erfährt man zum Beispiel nichts über die islamische Jugendkultur. Auch nichts über die Frauen(rechts)-Bewegung oder über feministische Theologinnen und ihre Koranauslegungen. Namen wie "Shirin Ebadi", die erste muslimische Friedensnobelpreisträgerin, "Fatima Mernissi", "Nahed Selim", "Riffat Hassan", "Lamya Kaddor" sucht man vergeblich. Das Redaktionsteam ist zwar interdisziplinärer geworden, doch besteht es nach wie vor fast nur aus Männern. Der dritte, vergleichende und dialogische Teil "Islam und Christentum" ist deutlich umfangreicher geworden. Neu sind etwa die Kapitel über "Abraham und Jesus" oder über die Frage des gemeinsamen Feierns und Betens. Dass die Darstellung insgesamt theologisch abgespeckt und gesellschaftspolitisch aufgewertet wurde, zeigt das neue Schlusskapitel über "Minderheitensituation und Menschenrechte". Ging es in den bisherigen Auflagen am Ende immer um die Gretchenfrage, ob der Islam ein "Weg zum Heil" sei, so wird nunmehr abschließend bekräftigt, "dass der Einsatz für die Menschenrechte gemeinsamer Auftrag für Christen und Muslime ist". Trotz dieser und anderer Defizite ist vorliegender Longseller auf dem besten Wege, ein Klassiker zu werden, von dem auch Muslime selbst viel lernen können. Martin Affolderbach/ Inken Wöhlbrand (Hg.): Was jeder vom Islam wissen muss. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 368 Seiten, Euro 14,99.
Martin Bauschke
Martin Bauschke
Martin Bauschke ist Theologe und Religionswissenschaftler. Er wohnt in Berlin.