Kein Dialog

Über sexuellen Missbrauch
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Trotz zutreffender Detailbeobachtungen ist der Autor in diesem Essay der Deutungsmacht der Psychoanalyse erlegen. Dadurch wird die Chance zu einem hilfreichen Dialog mit der Theologie vertan.

Seit Jahrzehnten leiden die großen Kirchen unter Vertrauens- und Mitgliederverlust. Diese Tendenz hat sich durch das Bekanntwerden sexueller Gewalttaten besonders in der katholischen Kirche verstärkt. Der Psychoanalytiker und Theologe Dieter Funke, der einen "Psychotherapeutischen Beratungsdienst für kirchliche Berufe" geleitet hat und heute in eigener Praxis therapeutisch tätig ist, hat auf Grundlage psychoanalytischer Erkenntnisse die Wurzeln sexueller Übergriffe in der Kirche untersucht. Sein provozierender Essay ist nachdenkenswert, weil er christliche Grundüberzeugungen berührt. Funke sieht im Klerikerideal die kollektive Leitidee der katholischen Kirche enthalten. Es vermittle, dass ein asexuelles Leben ethisch höher stehe als gelebte Sexualität. Wer sich diesem Ideal unterwerfe, dem werde eine hohe narzisstische Belohnung in Aussicht gestellt. Funke sieht das Problem nicht im Zölibat an sich - den gebe es ja auch in anderen Religionen. Problematisch sei ein kirchliches Milieu, das für Menschen mit einer gestörten psychosexuellen Entwicklung interessant sei, weil hier aus ihrer Not eine Tugend gemacht werden könne. Ein solches Milieu begünstige sexuelle Gewalt, weil hier eine monogeschlechtliche Hierarchie mit hoher Unterwerfungsbereitschaft herrsche, eine Spaltung in Kleriker und Laien vorgenommen werde, ein sadomasochistisches Verständnis vom Opfertod Jesu vermittelt und Märtyrertum verherrlicht werde. Die Verteufelung des Sexuellen begründet Funke psychoanalytisch mit der theologischen Konstruktion der "Heiligen Familie": Der Vater sei nicht der richtige Vater und kein sexueller Partner der Mutter. Die Mutter sei keine richtige Frau, sondern Jungfrau. Der Sohn werde deshalb zum Ersatzpartner gemacht, er sitze auf seines Vaters Platz. Das idealisierte, reine und makellose Bild von der Jungfrau Maria ermögliche es den "Jünglings-Männern", ihre infantile Bindung an die idealisierte Mutter in religiöser Gestalt fortzusetzen. Ein solches Klima sei ein günstiger Nährboden für sexuelle Gewalt. Die Spaltung in einen asexuellen Klerikerleib und einen sexuellen Körper führe zur Ablehnung der Leiblichkeit - sie werde als Fremdkörper erlebt. Im sexuellen Übergriff auf andere werde der entseelte und verdinglichte Körper auf das Opfer projiziert. Nach 120 Seiten psychoanalytischer Interpretationen - ein Glossar im Anhang erläutert die Fachbegriffe - deutet Funke auf den letzten 30 Seiten Wege zur Heilung an. Die Kirche müsse sich trennen: von krankmachenden Beziehungsmodellen in der Heiligen Familie und von neurotisierenden Erlösungsvorstellungen, wie sie im Sadomasochismus des Opfertodes Jesu vermittelt würden. Dann könnten die Menschen empfänglicher werden für die mystisch-spirituelle Erfahrung, dass in jedem ein unzerstörbarer göttlicher Kern anzutreffen sei. Trotz zutreffender Detailbeobachtungen ist der Autor in diesem Essay der Deutungsmacht der Psychoanalyse erlegen. Dadurch wird die Chance zu einem hilfreichen Dialog mit der Theologie vertan, den der Autor in früheren Veröffentlichungen konstruktiv geführt hat. Die Kirche benötigt dringend psychotherapeutische Hilfen zur Verbesserung ihrer Beziehungskultur, aber keine psychoanalytische Belehrung über "reife" Beziehungsmuster. Dem Autor sind Gesprächspartner zu wünschen, die sich von seinen Interpretationen nicht abschrecken lassen, sondern überlegen, welche Reformen die (katholische) Kirche benötigt, damit Glaubenswachstum mit Persönlichkeitsentwicklung einhergehen kann.

Dieter Funke: Die Wunde, die nicht heilen kann. Publik-Forum Edition, Oberursel 2010, 160 Seiten, Euro 16,90.

Michael Utsch

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