Meisterhaft

Leo Baeck: Neue Biografie

Sein schlichter Grabstein steht auf dem jüdischen Friedhof von London Hoop Lane, neben dem Namen befinden sich nur das Geburtsdatum und das Sterbedatum sowie die hebräische Inschrift mi-gesa-rabbanim, „aus dem Stamme von Rabbinern“. Leo Baeck hat die Gestaltung selbst so festgelegt, sie spiegelt seine Bescheidenheit und Zurückhaltung, mit der er sein Wirken und sich selbst verstand. Im Midrasch findet sich die Wendung tokho kevaro, die eine Übereinstimmung von Innerem und Äußerem feststellt. Sie trifft auf Baeck in besonderer Weise zu.

Es gab „keine Kluft zwischen dem, was er predigte, und dem, was er tat“. So zeichnet Michael A. Meyer, ehemaliger Internationaler Präsident des Leo-Baeck-Instituts, in seiner Biografie den großen jüdischen Gelehrten. Baeck sah sich in einer Reihe angesehener Gelehrter, darauf verwies schon sein Nachname, der sich von ben kedoschin herleiten sollte, „ein Nachkomme der Märtyrer“.

Damit ist auch schon der Rahmen abgeschritten, den sein Lebensweg bestimmen wird. Als Rabbiner war er der beharrliche Hirte seiner Gemeinde in Oppeln wie in Düsseldorf und Berlin, als Feldgeistlicher unter den Soldaten im Ersten Weltkrieg wie auch in der Zeit des Nationalsozialismus. In Berlin galt er als Leitfigur der deutschen Juden. Als Rabbiner und Lehrer wirkte er letztlich auch im Getto von Theresienstadt. Das Angebot, nach England zu gehen, um sein Leben zu retten, lehnte er ab. Er wollte „der letzte Jude“ sein, der Deutschland verlässt. Allein seine Gegenwart bedeutete Trost und Hoffnung. Seine eigene Stärkung schöpfte er aus der wissenschaftlichen Arbeit. In einem Midraschim stieß er auf den Gedanken der Schechina, der weiblichen Gegenwart Gottes. Sie begleite die Juden, wohin sie auch immer verstreut würden.

Schon früh hatte sich Baeck, der sich selbst als liberaler Jude verstand, als Brückenbauer zwischen den unterschiedlichen Strömungen im Judentum gesehen. Gerade diese Eigenschaft empfahl ihn in der bedrängten Zeit des „Dritten Reiches“, das deutsche Judentum zu leiten und zu präsentieren. Er erfuhr Respekt und Anerkennung im Inland wie im Ausland, aber stieß ebenso auf Neider und Konkurrenten, die dafür sogar bereit waren, ihn bei der Gestapo zu denunzieren. Den Nationalsozialisten begegnete er mit einer so ausgesprochenen Höflichkeit, dass darin seine ganze Verachtung ihnen gegenüber zum Ausdruck kam. Indes musste er bereits 1933 feststellen: „Die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums ist zu Ende.“ Als Präsident der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland half er denen, die nach Israel auswandern wollten, er organisierte „Kindertransporte“ und war aktiv in der Wohlfahrtshilfe. Ein Judentum, das nicht zum Handeln führte, hatte sein Wesen, die kategorische Moral, verloren.

Immer wieder führt Meyer Zeitzeugen an, gibt Begegnungen wieder, bisweilen auch Anekdoten. So wird in dem Wirken auch der Mensch sichtbar, nicht nur der Rabbiner, sondern auch der Ehemann und Vater. Und ganz am Rande erfährt man, wie er für den Feminismus eintrat und in der Synagoge am liebsten neben seiner Frau saß, auch wenn das in Berlin nur bei wenigen liberalen Gotteshäusern möglich war.

Leo Baeck hat nach 1945 im Blick auf das Verhalten des Christentums in der Zeit des Nationalsozialismus gemahnt: „Eine Religion, die in solchen Tagen einen Platz außerhalb des Schlachtfelds wählt und lieber zögert und mit der Zeit geht, hat einen Teil ihrer Seele begraben.“ Sie hat sich selbst verleugnet und wird dafür „früher oder später von der Weltgeschichte zur Rechenschaft gezogen werden“.

Meyer verknüpft Lebensweg und Denkweg. Vieles scheint dabei schon früh angelegt worden zu sein. Baecks Offenheit und Interesse, die ihn zum Vermittler werden ließ – die Verbindung von Predigt und Seelsorge, Leitung und Fürsorge, von Forschung und Lehre. Bekannt wurde er, als er auf Adolf von Harnacks berühmte Vorlesung „Vom Wesen des Christentums“ mit der Schrift „Vom Wesen des Judentums“ antwortete. Er verteidigte darin nicht nur das Judentum, sondern wies dem Kirchenhistoriker auch nach, dass er nicht wissenschaftlich gearbeitet und Zerrbilder entworfen habe. Baeck hoffte im Alter auf eine wechselseitige Beziehung zwischen Judentum und Christentum und warb für gegenseitigen Respekt. Meyers meisterhaft geschriebene Biografie ist der Appell, neben dem Rabbiner und Repräsentanten des deutschen Judentums auch den theologischen Denker zu entdecken.

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