Stabil bleiben

Historische Orientierung für Advent und Weihnachen in Zeiten der Pandemie
Foto: privat

In der Christenlehre habe ich gelernt, dass Mose das Gelobte Land zwar sehen, aber nicht betreten durfte. Vierzig Jahre zog das Volk Israel durch die Wüste. Vierzig Wochen Corona-Pandemie reichen anscheinend aus, dass es im Gebälk ordentlich kracht. Wie bleibt man in der Krise stabil?

Beim Blättern durch das Gesangbuch springen mir in den Adventsliedern große Metaphern entgegen: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. … Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.“ So heißt es im bekannten Adventslied von Jochen Klepper, dessen Text der „Dichter und Zeuge“ 1938 verfasste. „Als mir das Reich genommen, da Fried und Freude lacht, da bist du, mein Heil, kommen und hast mich froh gemacht,“ dichtet Paul Gerhardt vor dem Panorama des Dreißigjährigen Krieges. Und durch die Nachrichten geistert Armin Laschets Satz vom „härtesten Weihnachten, das die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben“.

Stabil bleiben, überlege ich mir, hat etwas damit zu tun, eine angemessene Perspektive einzunehmen. Da kann ein wenig historische Orientierung nicht schaden. Die Winter nach dem Kriege waren zum Beispiel für viele Deutsche viel mehr Hungerwinter als diejenigen während des Krieges, weil Nazideutschland die Nahrungsmittelversorgung insbesondere in den Städten bis in das Frühjahr 1945 aufrechterhielt. Es gab zwar Rationierungen, aber hungern musste man in der Regel nicht. Eine Revolution wie noch zum Ende des 1. Weltkrieges wollte die nazistische Regierung unbedingt vermeiden. Der Hunger kehrte erst mit der Niederlage ein.

Das Weihnachtsfest 1938 erlebten die Deutschen in ihrer Mehrzahl ebenfalls nicht als kleines Licht in der Finsternis. Die Wirtschaft brummte, es herrschte Vollbeschäftigung, die Teller und Mägen waren gefüllt. Zwar ahnte man wohl, dass ein baldiger Krieg möglich sei, aber bis dato waren noch alle Expansionsforderungen Nazideutschlands erfüllt worden. Das letzte Vorkriegsweihnachten stand, so entnehme ich privaten Korrespondenzen aus jener Zeit, zwar unter dem Vorzeichen sich ankündigender Weltverschiebungen, aber wurde doch in aller Ausführlichkeit begangen. Die Novemberpogrome, so man sie überhaupt als problematisch empfunden hatte und nicht gar selbst jubelnd bei den brennenden Gotteshäusern gestanden hatte, verblassten im Lichterglanz. Man irrt sich, wenn man glaubt, die Mehrheit der Christen in diesem Land wäre 1938 irgendwie bedrückt durch die Pforten ihrer Kirchen einhergeschritten.

Bleibt noch Paul Gerhardts „Wie soll ich dich empfangen“. Die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges liegen soweit zurück, dass sie uns – vor allem in ihren langfristigen Konsequenzen – nicht mehr begreiflich sind. Daran ändert auch das Pestjahr 2020 nichts, in dem sich einige glauben in vormalige Katastrophenerfahrungen besser einfühlen zu können. Vor allem muss man die Rede vom Weltengericht scharf zurückweisen, die sich durch Gerhardts Lied – und heute vor allem durch die Hetze der Corona-Wanderprediger – zieht. Dies ist nicht das Ende der Welt. Um den Blick gerade zu rücken, hilft bereits der Blick über die Grenzen des Kontinents hinaus.

Das soll nun nicht heißen, dass man die bildmächtigen Adventslieder der evangelischen Tradition nicht singen dürfte. Aber ein kritischer Blick auf „historische Vereinnahmungen“ in den begleitenden Predigten und Andachten, die uns in den kommenden Wochen bestimmt ereilen werden, ist erlaubt. Ja, er ist sogar ausdrücklich erwünscht, wollen wir eine angemessene Perspektive auf das Pandemie-Geschehen und unseren Platz darin behalten. Denn so tragisch die Folgen der Corona-Pandemie und Einschränkungen für viele Menschen sind, die allermeisten Menschen hierzulande werden Advent und Weihnachten bei bester Gesundheit in warmen und geschmückten Stuben, bei Kerzenschein und Plätzchen, Braten und reichlich Geschenken verbringen.

Die Belastungen der Krise spüren viele Menschen. Es ist ok, sich die eigene Ungeduld, die eigene Erschöpfung und Überlastung einzugestehen. Doch kann man von den Gesunden und Wohlhabenden auch verlangen, von sich selbst abzusehen. Dieser Perspektivwechsel kommt nicht allein den viel mehr betroffenen Kranken, Armen und Schwachen zugute, er hilft mir auch stabil zu bleiben. Mensch, so schlecht geht es mir doch gar nicht! Diesen oder jenen Verzicht kann ich gut üben und mich zum Wohle aller eingrenzen.

Als sich die Wüstenwanderung des Volkes dem Ende entgegen neigt, so habe ich es in der Christenlehre gelernt, führt Gott Mose auf einen Berg, von dem aus er das Gelobte Land erspähen kann. Stabil bleiben heißt, von sich abzusehen. Stabil bleiben für Christ:innen heißt mehr noch, den Blick ins Morgenland zu wagen.

„Die Nacht wird nicht ewig dauern.

Es wird nicht finster bleiben.

Die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht,

werden nicht die letzten Tage sein.

Wir schauen durch sie hindurch vorwärts auf ein Licht,

zu dem wir jetzt schon gehören und das uns nicht loslassen wird.

Das ist unser Bekenntnis.“

Helmut Gollwitzer

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