Den Willen respektieren
Wie weit kann die Begleitung von sterbewilligen Menschen gehen? Vor dieser Frage stehen die Mitarbeitenden in Pflegeeinrichtungen, wenn Bewohner den assistierten Suizid für sich in Erwägung ziehen. Die Evangelische Heimstiftung in Stuttgart, Trägerin von 145 Pflegeeinrichtungen, will ihrem Personal mit einem Positionspapier Orientierung bieten. Thomas Mäule, Leiter der Stabsstelle Theologie und Ethik der Heimstiftung, beschreibt die Hintergründe.
Ich mag nicht mehr!“, „Ich möchte sterben!“, „Ich wäre froh, es wäre endlich vorbei!“ Jede dieser Äußerungen formuliert den Sterbewunsch anders. Oft sind die Worte nicht eindeutig, mit denen ein Mensch seine existenzielle Not im Moment ausdrückt. Da geht es ums Hinhören. Vor jedem Suizid(versuch) steht die Sehnsucht, die Alltagswirklichkeit zu überschreiten. „Wenn wir jemandem helfen wollen“, so der Philosoph Søren Kierkegaard, „müssen wir zunächst herausfinden, wo er steht. Das ist das Geheimnis der Fürsorge.“ Das bedeutet, Menschen in ihren Wünschen, Nöten und Sorgen zuzuhören. Urteilsfrei, aufmerksam und wohlwollend. Sind es Ängste, Einsamkeits- und Sinnlosigkeitsgefühle, Schmerzen, Atemnot, Erstickungsangst? Ist es die zunehmende Pflegebedürftigkeit, Therapiemüdigkeit und die Vorstellung, eine Last für andere zu sein? Welchen Weg die Gedankengänge nehmen werden, ist im Moment der Erstäußerung selten entschieden.
Wichtiges Gut
Der gedachte „letzte Ausweg“ im Sinne des assistierten Suizids ist – Erfahrung und Statistik zufolge – eher selten. Unsicherheit und die Suche nach Wegbegleitern sind häufig Beweggründe. Im Vordergrund steht das Bemühen, Menschen in existenziellen Grenzsituationen zu verstehen. Sie so zu begleiten, dass sie ermutigt und befähigt werden, herauszufinden, was sie selber eigentlich wollen. Die Frage, wann es Zeit sein könnte, sein Leben zu beschließen, kann letztlich nur individuell beantwortet werden. Jedes Postulieren von Kriterien, die für alle zu gelten haben, wäre anmaßend. Vielmehr geht es darum, in einer offenen und geduldigen Gesprächskultur eine subjektiv angemessene Antwort zu finden und diesen autonomen Willen klar zu kommunizieren.
Selbstbestimmung ist für alle Bewohner ein wichtiges Gut. Was aber ist Autonomie am Lebensende? Selbstbestimmung eröffnet nicht nur Gestaltungsspielraum, es nimmt den Betroffenen auch in die Pflicht. „Wie, wann und wo will ich sterben?“ Diese Fragen zu stellen und zu entscheiden bringt einen Freiheitsgewinn, aber auch eine Verantwortung mit sich, die gerade für hochbetagte Menschen in Überforderung münden kann. Die mögliche Zumutung liegt nicht in der Fähigkeit, sich selbstständig ein Urteil zu bilden und zu kommunizieren. Sie ist existenzieller Natur – angesichts der völlig normalen menschlichen Ambivalenz gegenüber Sterben und Tod. Menschen können in Grenzsituationen geraten, in denen für sie nicht klar ist, was sie eigentlich wollen. Sie können im Tod den Freund und den Feind zugleich erblicken, ihn meiden und ersehnen. Für viele Hochaltrige steht nicht (mehr) der Wunsch im Vordergrund, aktive Gestalter des eigenen Sterbens zu sein. Die meisten möchten in vertrauensvollen Beziehungen mit Arzt und Angehörigen gemeinsam abwägen und entscheiden.
Komplexes Netz
Selbstbestimmung geht weit über das Recht hinaus, den eigenen Todeszeitpunkt bestimmen zu können. Zu Recht betonen Jacob Joussen und Isolde Karle in der Juni-Ausgabe von zeitzeichen: „Selbstbestimmung (ist) immer nur bedingt möglich und Autonomie (ist) immer nur relative Autonomie.“ Selbstbestimmung besteht aus einem komplex verwobenen Netz verschiedener Faktoren: soziale Beziehungen, persönliche Befindlichkeiten, kulturelle und religiöse Prägungen. Das Ich ist niemals bloß ein einzelnes Ich, es besteht aus vielen „Ichs“ und vielen „Wirs“. Ein Bewohner entscheidet nie „autark“. Seine Autonomie ist immer relational.
Selbstbestimmung ist mehr als ein völlig unabhängiges aktives Gestalten. Zu ihr kann auch die Fähigkeit gehören, Dinge hinzunehmen und geschehen zu lassen. Sich bewusst gestalten lassen von Umständen, Situationen und Personen. Bewusst angenommene Abhängigkeit kann bedeuten, dass Menschen – gerade im hohen Lebensalter – sich entschieden haben, auf andere zu vertrauen. Und dieses Vertrauen in die bestmögliche Leidenslinderung – durch andere Personen und Institutionen – eingelöst wissen.
Auf diese besonders vulnerable Situation ist das Autonomiekonzept des Gesetzgebers nicht abgestimmt. Das ist – mit Dietrich Korsch (zz 4/2020) – eine der Schwächen des Karlsruher Urteils. Es lässt das persönliche Umfeld des Sterbenden außer Acht. Die Angehörigen geraten aus dem Blick. Abschied und Tod sind aber nicht nur für den Sterbenden selber, sondern auch für dessen Angehörige von einschneidender Bedeutung. Ihnen wird nicht nur die Entscheidung der Sterbewilligen zugemutet, sondern auch die Erwartung, diese anzuerkennen. Eine vom Bewohner gewünschte gemeinschaftliche Entscheidungsfindung unter Einbezug von Angehören und Freunden ist zu respektieren.
Nicht überfordern
Selbstbestimmung darf nicht als Überforderung empfunden werden. Die Evangelische Heimstiftung hat als großer Altenhilfeträger ein Positionspapier (Link am Ende des Textes) vorgelegt, das die Wichtigkeit betont, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Autonomie sich möglichst wirksam entfalten kann und bestehende Selbstgestaltungskompetenzen möglichst lange erhalten bleiben – und seien diese noch so gering – und dass konkrete Wünsche und Werte respektiert werden. Kritische und widersprüchliche Problemlagen lassen sich in sogenannten Ethischen Fallbesprechungen klären, einer Methode zur Entscheidungsfindung in herausfordernden Situationen. Auch gesundheitliche Versorgungsplanungen können hilfreich sein, etwa die Erstellung einer Patientenverfügung, die als wertvolle Möglichkeit zum Gespräch genutzt werden kann. Auf dem Weg zur Klarheit können Bewohner sich Fragen stellen wie: Habe ich mein Leben so gelebt, dass ich lebenssatt geworden bin? Kann ich in Dankbarkeit loslassen („abdanken“)? Was konkret möchte ich noch erleben? Habe ich Angst vor dem Tod oder Schmerzen, vor Atemnot oder anderen Leiden? Wer soll mich in den letzten Lebenstagen und Stunden begleiten? Von wem möchte ich bewusst Abschied nehmen? Kann eine seelsorgliche Begleitung für mich von Bedeutung sein? Wie lange sollen lebenserhaltende Maßnahmen aufrechterhalten werden? Was ergibt sich daraus für meine jetzige Entscheidung?
Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zufolge soll jeder Mensch das Recht und die Freiheit haben, am Ort seiner Wahl in Würde zu leben und zu sterben. Zur Wahrung dieser Würde gehört das Recht, an der Ausübung der Selbstbestimmung nicht gehindert zu werden. Dies gilt unabhängig davon, welche Einstellung zum Thema „assistierter Suizid“ jeweils bei dem Träger, der Einrichtung oder dem jeweiligen Mitarbeiter besteht. Nun können und dürfen „Menschenwürde“ und „Selbstbestimmung“ nicht gleichgesetzt werden: als sei die Möglichkeit eines assistierten Suizids das Mittel zum Erhalt der Würde.
Selbstbestimmung ist ein unverzichtbarer Aspekt der Menschenwürde. Eine alleinige Fokussierung auf Selbstbestimmung und Autonomie birgt die Gefahr, menschliche Würde von der Fähigkeit abhängig zu machen, über sein Leben selbstständig entscheiden zu können.
Wert und Würde
Genau das widerspricht dem Gedanken der unverlierbaren Würde. Die enge Verbindung von Selbstbestimmung und Selbsttötung kann dazu führen, dass der Suizid als letzter Ausdruck menschlicher Autonomie gesehen wird. Eine solche Sicht verschleiert aber, dass Selbsttötung oft Ausdruck großer Einsamkeit und tiefer Unfreiheit ist. Oder dass Suizid als empfundene Pflicht zur „Entlastung“ von Mitbetroffenen ins Auge gefasst wird. Nicht Suizidhilfe, sondern Palliative Care, also die umfassende pflegende Versorgung von unheilbar Kranken, gehört – nach dem Hospiz- und Palliativgesetz – zum Versorgungsauftrag in der Altenhilfe. Die Heimstiftung versteht Suizidhilfe als Nothilfe im Einzelfall. Nämlich dann, wenn für den betreffenden Menschen jede andere zur Verfügung stehende Möglichkeit eine noch größere Belastung bedeuten würde. Dieser Fall kann aber immer nur ein Grenzfall sein. Das Positionspapier macht deutlich, dass es nicht zur Aufgabe der Pflege gehört, von sich aus Suizidhilfe anzubieten und durchzuführen.
„Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten“, betont zu Recht der evangelische Theologe Dietrich Korsch. Der Pflege darf nicht die Lösung von Problemen übertragen werden, die in den Verantwortungsbereich anderer fällt. Dazu gibt das Papier der Heimstiftung eine klare Position vor und stärkt den Mitarbeitenden den Rücken.
Als Orientierung gilt: „Bleibt nach sorgfältiger Information und Abklärung ein selbstbestimmter Wunsch nach Suizidhilfe bestehen, wird der Wille des Betroffenen respektiert, auch wenn er im Widerspruch zu den eigenen Werten steht. Die Klärung der letzten Schritte erfolgt ausschließlich durch den Bewohner selbst. Der letzte Akt der zum Tod führenden Handlung ist in jedem Fall durch die sterbewillige Person selbst durchzuführen.“
Im Grundverständnis der Heimstiftung hat jeder Mensch in jeder Lebensphase einen eigenen Wert und eine eigene Würde. Im praktischen Handeln soll der Bewohner durch die Art von Pflege und Begleitung erleben, dass er mit und trotz seiner Entscheidung wertvoll um seiner selbst willen ist. Er soll wissen, dass Leben bis zuletzt in der Einrichtung möglich ist. Auch im Zustand hochgradiger Verletzlichkeit behält das Leben seinen Wert und seine Würde. Selbstbestimmung manifestiert sich nicht nur im assistierten Suizid, sondern auch im Entschluss, in bewusst angenommener Abhängigkeit, bis zum letzten Atemzug zu leben.
Information
Das Positionspapier der Heimstiftung ist zu finden unter https://www.ev-heimstiftung.de/fileadmin/default/Ueber-uns/Ethik/Positionspapier_Assistierter_Suizid.pdf
Thomas Mäule
Dr. Thomas Mäule ist Leiter der Stabstelle „Theologie und Ethik“ der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart.