Zur Befreiung bilden

Warum evangelische Schulen die Zukunft der Kirche sein könnten
Unterricht
Foto: epd/Veit Mett

Gut eintausend evangelische Schulen gibt es in Deutschland, mehr als die Hälfte von ihnen sind allgemeinbildend. Sie haben einen guten Ruf, nicht nur weil sie mit Blick auf die Abschlussnoten oft Spitzenplätze belegen. Doch was genau ist das spezifisch Evangelische an diesen Schulen? Zeitzeichen-Redakteur Stephan Kosch, dessen Töchter selber eine evangelische Schule besuchen, hat nachgefragt.

Der Schulhof ist brechend voll. Zwischen den beiden Plattenbauten in Berlin-Mitte, einer saniert, der andere noch nicht, stehen hunderte Schüler:innen und viele Eltern. Zwischendrin sind Paddel zu sehen, vollgepackte Fahrräder, verpackte Zelte, Wanderrucksäcke, aufgeregte junge Stimmen. Zwei Wochen vor den Sommerferien starten die Jahrgänge 7 bis 10 der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) in ihre selbstgewählten „Herausforderungen“. In kleinen Gruppen werden sie in den kommenden elf Tagen durch Deutschland wandern, radfahren oder paddeln, an der Küste segeln, auf Bauernhöfen arbeiten. In der Regel ohne Lehrkräfte und ohne Smartphone. Nur ein Tastenhandy für den Notfall haben sie dabei – und zwei volljährige Schüler:innen, die aber nur in wirklich schwierigen Situationen eingreifen sollen. Das Budget für jeden und jede liegt bei zehn Euro am Tag. Die Routen planen und schaffen, Essen einkaufen, kochen, möglichst kostenlose Schlafplätze finden, als Gruppe durchhalten auch, wenn es schwierig wird, und auch mal das Scheitern lernen – Lektionen fürs Leben für die Schüler:innen. Und Lektionen im Loslassen für die Eltern.

Gesungener Reisesegen

Die Schulleiterin ruft alle in das „Forum“ genannte Mehrzweckgebäude. Dort stellen sich die Lehrer:innen auf, singen den „Irischen Reisesegen“: „Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott Dich fest in seiner Hand.“ Jedes Jahr eine neue Herausforderung. Und zum Abschluss in der Jahrgangsstufe 11 wird es dann noch aufregender. Alle Schüler:innen gehen für drei Monate allein oder zu zweit ins Ausland, um dort gegen Kost und Logis zu arbeiten und ihre Erfahrungen zu machen. Die „Herausforderung“ ist eines von vielen ungewöhnlichen Lernformaten an dieser Schule, das mittlerweile an vielen Stellen so oder abgewandelt übernommen wurde, nicht nur an anderen evangelischen Schulen.

Davon gibt es insgesamt 1027 in Deutschland, 623 davon allgemeinbildende Schulen. Gerade mal zwei Prozent aller allgemeinbildenden Schulen sind das. Und dennoch sollen sie wirken wie der Sauerteig, nicht nur Bildung auf Evangelisch vermitteln, sondern in einer Gesellschaft, in der Kirche an Bedeutung verliert, für mehr Relevanz der Kirche sorgen. Dass dieses Konzept aufgehen kann, hat Frank Olie erlebt. Er ist Studienrat für die Fächer Latein und Sport, war viele Jahre Schulleiter in einer evangelisch geprägten Schule und ist seit 2010 Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Schulstiftung in der EKBO, der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Zwar sind die ersten evangelischen Schulen in der Region bereits 1948 gegründet worden, darunter so traditionsreiche wie das Graue Kloster oder das Evangelische Gymnasium in Frohnau.

Ein wahrer Gründungsboom setzte aber nach der Wende auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein, wo von Volkskirche keine Rede mehr sein konnte. „Viele Eltern waren skeptisch mit Blick auf die staatlichen Schulen, auch wegen Erfahrungen aus der DDR-Zeit“, sagt Olie. Und obwohl viele Menschen der Region sich als Atheisten bezeichnen, hätten sie den Kirchen als „wertegebundene“ Träger Vertrauen entgegengebracht und tun dies bis heute. In diesem Monat eröffnet das evangelische Gymnasium in Frankfurt/Oder. „Viele kommen zu uns wegen der christlichen Werte, um als Gemeinschaft zu leben, wegen des sozialen Engagements und der Bereitschaft, Verantwortung für diese Welt zu übernehmen.“ Das tun aber doch auch andere, auch staatliche Schulen legen Wert auf all die genannten Punkte. Was ist dann das spezifisch Evangelische? Olies Antwort: „Wir arbeiten auf dem Grund unseres christlichen Glaubens mit der Vorstellung, dass jeder Mensch, so wie er geschaffen ist, gut ist. Wir schätzen die Schüler:innen nicht aufgrund ihrer Leistungen, sondern einfach, weil sie da sind. Bei uns stehen Selbstverantwortung, Partizipation und Kooperation ganz oben.“

Orientiert an Melanchthon

Das bedeute nicht, dass die Schulen leistungsfeindlich seien. Im Gegenteil, beim Durchschnitt der Abiturnoten belegen die evangelischen Schulen auch in diesem Jahr die Spitzenplätze. „Aber Leistungen und Zensuren, das ist eben nur eine Perspektive auf das Schulleben. Wir Pädagog:innen an den Schulen haben die Aufgabe, das Potenzial, das die Kinder mitbringen, zu entfalten.“ Wie das konkret an den 34 Schulen der Schulstiftung gelebt und in Unterrichtskonzepte gegossen wird, ist unterschiedlich. Aber es kann schon mal vorkommen, dass an der ESBZ ein Lehrer einer Schülerin auf dem Weg in die Oberstufe ins Zeugnis schreibt, dass die Noten zwar etwas gelitten haben, weil die Schülerin in diesem Jahr eher ihren Fokus auf Knüpfen von neuen Freundschaften in der Schule gelegt habe. Für das nächste Jahr wünsche er ihr aber nun viel Spaß mit den Freunden – und auch wieder beim Lernen. Und dass zu den halbjährlich zwischen Schüler:innen und Lehrkräften (und tatsächlich nur zwischen diesen beiden) vereinbarten Lernzielen auch „mehr Schlaf“ oder „einmal pro Woche zu Hause kochen“ gehören kann, verwundert so manche Eltern. Es zeigt aber, dass eben nicht vor allem Fächer unterrichtet werden, sondern junge Menschen in ihrer sehr vielfältigen Lebenswirklichkeit. Denn das, so Olie, sei der emanzipatorische Gedanke seit der Reformation: Menschen bilden, um sie zu befreien, um Emanzipation zu ermöglichen. „Da stehen wir ganz in der Tradition Melanchthons.“ Die Chance, als evangelische Kirche sichtbar zu sein in der Gesellschaft und zu zeigen, dass sie etwas zu bieten habe, hätten die evangelischen Schulen ergriffen. „Wir müssen die Kirche aber noch davon überzeugen, diesen Weg konsequent weiterzugehen.“

Eine solche Überzeugungsarbeit müssen derzeit auch die Verantwortlichen für die evangelischen Schulen in der westfälischen Landeskirche leisten. Nicht, weil der Wert der sieben Schulen mit knapp 5900 Schüler:innen in landeskirchlicher Trägerschaft grundsätzlich in Frage gestellt wird. Aber am Ende muss doch jemand dafür bezahlen, zumindest für den Teil, der nicht als Zuschuss vom Land NRW kommt. Weil die Kirchensteuereinnahmen sinken, hat die Synode der Landeskirche in diesem Frühjahr den Auftrag gegeben, neben dem landeskirchlichen Haushalt alternative Finanzierungsquellen zu suchen. Insgesamt etwa acht Millionen Euro fließen pro Jahr in die evangelischen Schulen der Landeskirche, sagt Thomas Schlüter, Bildungsdezernent der Landeskirche und Leiter des Pädagogischen Institutes. „Und dieser Anteil muss in den kommenden Jahren sinken, konkrete Vorgaben gibt es aber nicht.“

Dazu muss man wissen, dass – anders als etwa in der EKBO, wo die Schulstiftung zwar Gebäude und eine Patronatserklärung von der Landeskirche erhalten hat, aber keine regelmäßigen weiteren Zuschüsse bekommt – in Westfalen keine Elternbeiträge erhoben werden, die man nun erhöhen könnte. Auch die Neueinführung solcher Beiträge ist schwierig, weil das Förderregelwerk in NRW dazu führen würde, dass dann die staatlichen Zuschüsse in gleicher Höhe sinken. An den Personalkosten kann nicht so einfach etwas verändert werden, denn in Westfalen sind – auch das ein Unterschied zur EBKO – Lehrer:innen an evangelischen Schulen wie ihre Kolleg:innen an den staatlichen Schulen verbeamtet, allerdings nicht beim Staat, sondern bei der Landeskirche. „Wir werden aber in alle Richtungen denken, um die Einnahmen zu erhöhen“, sagt Schlüter. Ein wichtiger Ansprechpartner dabei werde die Politik sein, etwa die Kommunen, in denen die Schulen stehen. Drohen Schulschließungen? „Ich finde, wir können auf keine Schule verzichten“, sagt Schlüter. „Aber wir müssen ein Gesamtpaket schnüren.“

Gemischte Schülerschaft

Dass kirchliche Schulen nicht nur ein „Nice-to-have“ für bildungsbürgerlich geprägte Anhänger protestantischer Werte sind, macht Monika Pesch, Dozentin am Pädagogischen Institut der Evangelischen Kirche von Westfalen, deutlich. „Wir haben sie alle“, beschreibt sie die Schülerschaft. So sei die evangelische Schule in Breckerfeld bei Hagen der einzige Schulanbieter am Ort und in Espelkamp im Kreis Minden-Lübbecke einer von zweien. Allein das sorge für gemischte Schülerschaft. In Gelsenkirchen ist die Landeskirche Träger der Gesamtschule im Stadtteil Bismarck, der stark unter dem Strukturwandel in der Region zu leiden hatte und in der Presse „Problemviertel“ genannt wird. Auch hier, wie in den anderen evangelischen Schulen, verpflichten sich die Schüler:innen zur Teilnahme am Religionsunterricht, evangelisch, katholisch oder – wie an der Schule in Bismarck – islamische Religionslehre.

Doch das Thema Religion reicht über den Unterricht hinaus. „Bei uns findet religiöses Leben tatsächlich statt “, sagt Monika Pesch. „Und zwar in einem Maße, das es an der staatlichen Schule so nicht gibt.“ Es würden immer wieder Angebote zum Innehalten gemacht, Schüler:innen gestalten ab der 8. Klasse Andachten selbst. „Religiöses Leben gehört zur DNA der kirchlichen Schulen“, meint Schlüter. Ebenso das diakonische Lernen durch Praktika und Begegnung mit diakonischen Einrichtungen. Entsprechend gibt es auch unkonventionelle Lernformate, freies Lernen sei wichtig, das Projekt Herausforderung habe man ebenfalls adaptiert. „Wir haben enorme Prägekräfte“, sagt Schlüter. „Unsere Schüler:innen haben sechs bis neun Jahre Kontakt mit uns. Wenn man über so eine lange Zeit gute, sinnstiftende religiöse Angebote bekommt, bleibt das nicht ohne Wirkung.“ Gerade auch vor dem Hintergrund der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sei dies ein wichtiger Befund. Denn sie habe ja gezeigt, dass in den Familien immer weniger religiöse Prägung stattfinde.

Auch Frank Olie sieht die evangelischen Schulen nicht nur als große Chance für die Kirche, er sieht sie vielmehr als „Gemeinde auf Zeit“. „Wir investieren nicht in Schulen, damit sich alle Schüler:innen taufen lassen“, sagt er. „Wir haben ja keinen Missionsanspruch. Aber wir laden ein und machen ein evangelisches Angebot. In diesem Sinne sind wir Kirche.“ Welche Botschaft an die Schüler:innen damit verbunden sein kann, macht nochmal ein Blick auf die ESBZ in Berlin-Mitte deutlich, wo Lehrer Ulrich Marienfeld die Abiturient:innen dieses Jahrganges mit einer eindrücklichen Rede verabschiedet und dabei auch sein Bild einer „menschenfreundlichen Kirche“ vermittelt: „Es geht nicht mehr darum, Antworten auf nie gestellte Fragen zu postulieren, sondern sich verletzlich und mitfühlend der Unverfügbarkeit des Lebens zu stellen.“ Die Tora im Judentum und die Schriften der frühen Christen seien voll von „unglaublich befreienden Erzählungen (…), die jenseits jeglicher Dogmatik dazu einladen, erwartungsvoll sich dem entgegenzustellen, was die vermeintlich harten Fakten des Lebens zu sein scheinen.“ Und dann verabschiedet er die Schüler:innen wie folgt: „Es gibt so viel mehr, als ihr bisher kennt. Möge eure Neugier immer größer sein als euer vermeintliches Wissen. Geht hinaus! Entdeckt und gestaltet diese Welt mit großem Vertrauen, ausdauernder Hoffnung und verschwenderischer Liebe. Gott segne euch!“

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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