Zwischen Gaza und Paris

Wie gegenseitige Nicht(be-)achtung die weltweite Ökumene straucheln lässt
Foto: EMS

Irgendwann nach dem 7. Oktober 2023 unterhielt ich mich mit einem Kollegen, der wie ich im Bereich internationaler, zwischenkirchlicher Beziehungen arbeitet. Angesichts des Terrorüberfalls auf Israel, des anschließenden Gazakrieges und der weltweiten Reaktionen darauf stellten wir fest, dass wir eine kleine, aber vielleicht wesentliche Beobachtung miteinander teilen: Da hatten wir jahrelang gedacht, dass die ökumenische Gemeinschaft von Kirchen in unterschiedlichen Ländern zunehmend an Fragen der Sexualethik auseinanderbreche – und nun sei es eben doch wieder die eher klassische Frage der Positionierung zu Israel, an der sich die Geister am deutlichsten scheiden.

Der überwiegende Teil der deutschen Kirchenleitungen hatte sich da angesichts des Hamas-Terrors (ebenso wie die Bundesregierung) dezidiert an die Seite Israels gestellt, in zahlreichen Kirchengebäuden wurden (ebenso wie an den Rathäusern) israelische Fahnen aufgezogen, und während das Brandenburger Tor in israelischem Blau-Weiß erstrahlte, distanzierte man sich von propalästinensischen Demonstrationen mit ihren leider nicht zu leugnenden antisemitischen Ausfällen. Ebenso erstaunt wie entsetzt hingegen war man angesichts der Stellungnahmen kirchlicher Weltbünde wie auch von Kirchenvertretern aus dem Nahen Osten, die (von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen), Entführungen, Massenvergewaltigungen und Mord nicht beim Namen nannten, sondern stattdessen eher unkonkret allenfalls die „Gewalt auf beiden Seiten“ verurteilten und zugleich auf ihre Sicht der Vorgeschichte des 7. Oktober (das „nicht im luftleeren Raum“ des UN-Generalsekretärs) verwiesen. 

Dabei merkte man in weiten kirchlichen Kreisen in Deutschland gar nicht, dass im Nahen Osten das Entsetzen über die deutschen Partner ungefähr gleich groß war; dass nämlich die Stellungnahmen deutscher Kirchenleitungen (wie der deutschen Politik) als Rechtfertigung eines brutalen Vorgehens der israelischen Armee im Gazastreifen und somit als Missachtung palästinensischen Lebens sowie als Bruch der Gemeinschaft mit den Geschwistern in Nahost aufgenommen wurden. Das Verständnis mancher nahöstlicher Christinnen und Christen gegenüber der Hamas erschien dabei letztlich größer als das Verständnis gegenüber solchen deutschen Partnern – was zu weiterer gegenseitiger Entfremdung beitrug.

Zornige Verbissenheit

Inzwischen sind die meisten israelischen Fahnen an deutschen Kirchen und Rathäusern wieder abgehängt, nur noch die ganz Unverwüstlichen beider Seiten verbreiten über die sozialen Medien täglich und mit zunehmender Verbissenheit ihre zornigen Posts, bei alledem zieht sich der Gazakrieg bald über ein Jahr, die geschätzte Zahl der Toten pendelt um die 40.000, die Entführten werden weiterhin in den Tunneln unter einem zerstörten Gaza festgehalten, die Traumata der Kriegs- und Vergewaltigungsopfer wachsen exponentiell und sind von einer Aufarbeitung – wenn es dazu je kommen sollte – weit entfernt. Zugleich brennt es auch an der israelisch-libanesischen Grenze schlimmer denn je, die Gefahr eines umfassenden Nahost-Krieges steigt von Tag zu Tag – während antisemitische Zwischenfälle in Deutschland trauriger Alltag geworden sind. Und um die zwischenkirchlichen Beziehungen in Richtung Nahost kümmern sich nicht mehr die Kirchenleitungen oder Meinungsmacher in den Medien, sondern wieder allein die Ökumene-Fachleute, sofern sie nicht auch längst frustriert aufgegeben haben.

In dieser Situation kam es nun nach der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris am 26. Juli über mehrere Tage hinweg zu einer Art „Sturm im Wasserglas“, dessen Ausläufer jenseits Europas jedoch recht bald zeigten, dass mein Kollege und ich mit unserer eingangs genannten Beobachtung offenbar nicht ganz richtig lagen. 

Eine kleine Szene von wenigen Minuten während der mehrstündigen, beeindruckenden Eröffnungsfeier war es, die da über mehrere Tage hinweg die sozialen Netzwerke wieder einmal zum Glühen brachte. Die Inszenierung eines Festmahls durch Angehörige der LGBTQ+-Community wurde da von zahlreichen Christinnen und Christen als Verhöhnung des christlichen Abendmahls interpretiert. Schnell kamen die Entgegnungen, dass das Vorbild der Szene eben nicht Leonardos Abendmahl Jesu gewesen sei, sondern vielmehr das „Festmahl der Götter“ von Jan van Bijlert mit Dionysos im Zentrum. 

Andere wiederum wiesen darauf hin, dass Leonardos Gemälde wohl durchaus auch van Bijlert inspiriert habe, und sich zudem motivisch in zahlreichen Festmahl-Darstellungen der Popkultur von Asterix bis Star Trek wiederfinde, woran ja bislang auch noch niemand Anstoß genommen hat. Weitere kluge Texte befassten sich mit den Charakteren, die Jesus tatsächlich an seinen Tisch eingeladen hat (ja: die Akteure der Szene von Paris hätten unbedingt da gesessen!), mit dem Einfluss des römischen Dionysos-Kults auf die frühchristliche Christologie oder möglichen Anspielungen der Musik, die während der Festmahls-Szene vorgetragen wird, auf das (verlorene) Paradies der biblischen Erzählung. Kurzum: Die Empörung über die Szene in Paris wurde als ganz und gar unnötig erklärt.

Einfach nur tieftraurig

Was mir bei alledem auffällt: Stets arbeiten sich Vertreter (zu gendern ist hier wohl nichts) der deutschen Theologenzunft an den Protesten derjenigen ab, die sie als ultra-konservative Katholiken, Parteigänger des amerikanischen Evangelikalismus oder allenfalls noch als gutmeinend-ahnungslos identifizieren. Überhaupt nicht reagiert wurde, soweit ich sehe, auf die Proteste aus einer ganz anderen Richtung: 

Bereits einen Tag nach der Olympia-Eröffnungsfeier veröffentlichte der Mittelöstliche Kirchenrat (MECC) ein ausführliches Statement, in dem er unter anderem fragte: „Wenn Respekt und Freundschaft grundlegende Werte der Kultur der Olympischen Spiele sind, wie kann das Olympische Komitee dann akzeptieren, dass gegen seine Werte verstoßen wird?“ 

In den folgenden Tagen äußerte sich der allergrößte Teil der Pfarrer in Nahost, die ich persönlich kenne, in ähnlicher Weise: Überhaupt nicht dogmatisch, beleidigt oder aggressiv (wie es Vertreter einer „orientalistischen“ Sicht der arabischen Welt gerne unterstellen), sondern einfach nur tieftraurig angesichts einer (weiteren) europäischen Respektlosigkeit. Sehr bald ergriffen auch die höchsten religiösen Autoritäten Ägyptens, der koptische Patriarch und der Großimam von Al-Azhar gemeinsam das Wort, um diese (empfundene) Respektlosigkeit zu verurteilen.

Doch ganz gleich, ob da nahöstliche Pfarrerschaft, transnationaler Kirchenrat oder höchste religiöse Würdenträger in christlich-muslimischer Verbundenheit gesprochen haben – dieser Ball wurde im Westen, zumindest in Deutschland, wohl nicht aufgenommen. Vielmehr wurden solche Stimmen von Kirchenleitungen wie von Theologinnen und Theologen offenbar konsequent ignoriert. Und während die innerdeutschen Debatten von Tag zu Tag ausgefeilter wurden, haben sich die Partner (?) aus Nahost wieder denjenigen Dingen zugewendet, die für sie jetzt dringlicher, existenzieller und lebensbedrohlicher sind: nämlich dem Abgleiten ihrer ganzen Weltregion in einen alles zerstörenden Krieg.

Orgie als völkerverbindendes Element?

Warum ist es so gekommen? Aus Unachtsamkeit? Weil die nahöstlichen Kirchenvertreter vor dem Hintergrund der kirchlichen Umbrüche im Westen ohnehin nur noch als merkwürdige alte Herren in seltsamen Gewändern wahrgenommen werden? Oder sollte der erste Gesprächsabbruch (angesichts von Gaza) gar die zweite Gesprächsverweigerung (angesichts von Paris) bedingen? Könnte es sein, dass man hierzulande seit dem 7. Oktober von den Glaubensgeschwistern in Jerusalem, Ramallah, Bethlehem, Beirut, Amman und Kairo überhaupt keinen Gesprächsbeitrag mehr erwartet, mit dem man sich inhaltlich auseinandersetzen müsste? Tragisch wäre es in beiden Fällen. Wobei im zweiten Fall sehr deutlich würde, dass es im Auseinanderbrechen der internationalen ökumenischen Beziehungen nicht um Sexualethik oder Israel geht, sondern dass beide „Steine des Anstoßes“ geeignet sind, genau dieselben Bruchlinien zu vertiefen.

In manchen der nahöstlichen Stellungnahmen nehme ich wahr, dass es eigentlich gar nicht so sehr darum geht, ob in Paris nun konkret das letzte Abendmahl Jesu nach Leonardo Da Vinci in Szene gesetzt wurde, oder ein dionysisches Göttermahl. Wenn es denn ein Angriff auf die christliche Religion wäre, dann wäre das gewiss etwas Handgreiflicheres – aber die Inszenierung einer heidnischen Orgie als vorgeblich völkerverbindendem Element wäre für Festgäste aus Nahost wohl von ähnlicher Qualität. Und hier mag der eigentliche Konfliktpunkt liegen: Das Zuschaustellen der angeblichen eigenen Offenheit gegenüber allen Formen der Queerness wird eben in weiten Teilen der Welt nicht allein als befremdlich, sondern in gewisser Weise auch als unaufrichtig wahrgenommen. 

Unaufrichtig ist eine solche Zurschaustellung wohl auch bei einer neutraleren Betrachtung. Schließlich war die verquaste europäische Sexualmoral des 19. und des größten Teils des 20. Jahrhunderts wohl einer der Exportschlager des Kolonialismus. Wenn sie uns jetzt aus dem so genannten „Globalen Süden“ wieder entgegenschlägt, dann sollte das niemanden verwundern. Diese Form der Moral hat uns lange geprägt. Ich selbst gehöre zu einer Altersgruppe, die es miterlebt hat, dass Angehörige des eigenen Vikarsjahrgangs nicht zum Pfarramt zugelassen wurden, weil sie in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebten. Und solche kirchenamtlichen Entscheidungen wurden erst vor rund zehn Jahren korrigiert!

Mehr Respekt erforderlich

Die Art und Weise, mit der heute Queerness im öffentlichen Raum zelebriert wird, erinnert mich zuweilen an den Glaubenseifer von Neubekehrten: Wir sind so frei – und alle anderen sollen es jetzt gefälligst auch sein. Eine solche Haltung mag bei einem Eurovisions-Schlagerwettbewerb in Ordnung sein, schließlich ist dies eine rein europäisch-israelische Veranstaltung (wiewohl Vertreter aus konservativeren europäischen Staaten auch daran zu kauen haben). Wo es aber um eine Veranstaltung geht, die ein völkerverbindendes Fest der ganzen Welt sein soll, da bräuchte es einfach mehr von dem, was die nahöstlichen Stimmen einfordern: Respekt – und zwar auf allen Seiten. Um queere Menschen als gleichberechtigten Teil der Gesellschaft (und auch der olympischen Familie) wertzuschätzen, bedarf es keiner Drag-Queens in quasi-religiöser Kulisse. (Übrigens mag man sich fragen, was angesichts der Eröffnungsfeier losgewesen wäre, wenn auch Russland an den Olympischen Spielen teilgenommen hätte – was nun aus bekannten Gründen nicht der Fall ist).

Es ist eine gefühlte Ewigkeit her, seit Kirchenleitungen aus Deutschland in großer Zahl in den Nahen Osten pilgerten, um dort ihre christlichen Geschwister zu besuchen, die dann gerne als „lebendige Steine“ gewürdigt wurden; als diejenigen, die in einer lebendigen Tradition mit der Jerusalemer Urgemeinde stehen und den christlichen Glauben in seinem Kernland wachgehalten haben. War das alles Rhetorik? Seit dem 7. Oktober nehme ich hier vielmehr ein betretenes Schweigen wahr. 

Aber auch umgekehrt werden die Besuche nahöstlicher Christinnen und Christen in Deutschland weniger. Manche sagen im persönlichen Gespräch sehr offen, dass die Kirchen hier für sie als hoffnungsloser Fall gelten. Ich bin mir nicht sicher, ob in Deutschland die Reisen überhaupt zur Kenntnis genommen wurden, die palästinensische Theologinnen und Theologen allein in den letzten paar Wochen in die USA unternommen haben. Anders als in Deutschland füllen die kirchlichen Partner dort leicht einige große Vortragssäle oder auch mal ein ganzes Eishockeystadion mit Menschen, die ihren palästinensischen Geschwistern sowohl in der politischen Analyse im Blick auf Gaza als auch in Fragen der Moral begeistert, gar frenetisch, zustimmen. Das ist auf dieser Seite des Atlantiks gewiss nicht unser Stil. Dennoch wird es notwendig sein, die Zeit und Kraft zu investieren, um beschädigte Beziehungen in respektvoller Weise wieder aufzubauen – auch und gerade da, wo in Sachfragen ein Dissens besteht. Denn für eine ohnehin angeschlagene Kirche, wie sie sich in Deutschland zeigt, wäre ein Verlust der Beziehungen zu den Geschwistern an den Ursprungsorten des Glaubens nicht nur misslich, sondern schlicht fatal.

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Uwe Gräbe

Pfarrer Dr. Uwe Gräbe ist Nahostreferent der Evangelischen Mission in Solidarität und Geschäftsführer des Evangelischen Verein für die Schneller-Schulen.


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