Tempus fugit

Warum muss alles so schnell gehen? Erwägungen anlässlich des Rücktritts von Annette Kurschus

Am vergangenen Montag gab die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus ihre Leitungsämter auf. Viele bedauern das, eigentlich die meisten. Aber viele hielten diesen Schritt für unausweichlich. Stimmt das? Horst Gorski, bis zu diesem Sommer Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, maßt sich über diesen Vorgang kein Urteil an, hat aber seine Anfragen.

Nicht einmal der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist vor mal eben rausgehauenen Rücktrittsforderungen sicher. Aber auch die Absage von Veranstaltungen, die Ausladung von Referierenden, die Rücknahme von verliehenen Preisen prägen unsere Landschaft. Meistens erfolgen die Entscheidungen binnen Tagen oder sogar Stunden. Kann eine ausreichende Prüfung des Sachverhalts so schnell überhaupt stattgefunden haben?

Nun ist die Ratsvorsitzende der EKD zurückgetreten, sowohl vom Ratsvorsitz und auch als Präses der westfälischen Landeskirche. Sie wurde dazu aufgefordert wegen des Vorwurfs, Meldungen über sexualisierte Gewalt in den 1990er-Jahren nicht verfolgt zu haben. Bisher sind weder die mutmaßlichen Taten selbst noch der Vorwurf der Vertuschung endgültig geklärt. Die Staatsanwaltschaft arbeitet noch. Aber die schmerzliche „causa Ratsvorsitzende“ scheint schon „finita“, knapp zwei Wochen, nachdem die „Siegener Zeitung“ sie öffentlich gemacht hatte, nur knapp eine Woche, nachdem die Ratsvorsitzende vor der Synode in Ulm Stellung genommen hatte und wenige Tage nach ihrem Rücktritt am Montag.

Hinter der konkreten Oberfläche dieses einen Geschehens sind Muster zu beobachten, wie sie in vielen Fällen von Rücktrittsforderungen oder sogenannter Cancel-Culture im Augenblick greifen. Mit diesen, überwiegend kommunikationstheoretischen Mustern, will ich mich hier beschäftigen. Diese Vorgehensweise ist auch durch die erforderliche Distanz zu meiner früheren Rolle als EKD-Vizepräsident geboten. Die konkreten Geschehnisse zu beurteilen ist meine Sache nicht. 

„eigene Beobachtung“/Fremdbeobachtung

Alle Kommunikation verläuft entlang von Zwei-Seiten-Referenzen. So kann man in einer ontologisch ausgerichteten Philosophie darüber streiten, ob ein Phänomen, zum Beispiel das Böse, als ein Sein oder Nichtsein zu verstehen ist. Das Gesundheitssystem operiert entlang der Referenz gesund/nicht gesund, die Wirtschaft entlang Kapital haben/Kapital nicht haben. Vernunftgerichtete Diskurse seit der Aufklärung verlaufen entlang der Referenz wahr/nicht wahr. 

Beobachtet man die Kommunikation um uns herum, so scheint der vorherrschende Bezugspunkt von Kommunikation die Zwei-Seiten-Referenz „eigene Beobachtung“/Fremdbeobachtung zu sein. In den Hintergrund treten argumentative Diskurse, die an einem Vernunftinteresse ausgerichtet sind.

Die Debatte um die Frage, wie viele Geflüchtete Deutschland (noch) aufnehmen kann, ist ein Beispiel dafür. Diese Frage ist als solche gar nicht zu beantworten, weil sie von verschiedensten Bedingungen abhängt. Aber statt sie in Fragen zu überführen, die in einem vernunftgeleiteten Diskurs zu bearbeiten wären – Wie kann die Integration von zugewanderten Menschen schneller und besser gelingen? Was kann getan werden, um Konkurrenzen im Sozialsystem zu vermeiden? –, schließt eine Talkshow an die nächste an und wiederholt Statements, deren oft einziger Bezugspunkt „eigene Beobachtung“/Fremdbeobachtung ist, in denen mithin beliebig alles behauptet werden kann. Dass meine Beobachtung meine Beobachtung ist, ist von keinem Standpunkt aus widerlegbar. Und die Fremdbeobachtung kann beliebig geleugnet oder mit Verachtung behandelt werden. So ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob ein bestimmter Rücktritt „unvermeidlich“ ist oder war. Ohne Kriterien, an denen diese Frage geprüft werden kann, führt sie nur in eine kommunikative Endlosschleife.

Befeuerung durch Digitalisierung?

Es wird kaum zu klären sein, ob diese kommunikative Struktur durch die Digitalisierung verursacht oder lediglich befeuert wird. Auf jeden Fall trägt die Digitalisierung erheblich zu ihrem Funktionieren bei. Mit ihrer sowohl quantitativ als auch im Blick auf die Geschwindigkeit ins Unendliche gesteigerten interaktiven Rekursivität tragt sie dazu bei, dass für vernunftgerichtete Diskurse kaum noch Zeit und Raum bleiben. Diskurse haben aber auch systemisch wenig Platz, weil die Triebfeder der Kommunikation – so scheint es – nur noch sie selbst ist. Ihr Mechanismus: An eine Ausgangsinformation wird möglichst oft und möglichst lange eine Kommunikation an die andere angeschlossen. Da wäre die diskursive Beantwortung einer Frage nur störend. Sie würde einen Kommunikationszyklus beenden.

Niklas Luhmanns Behauptung, Gesellschaft werde letztlich durch nichts anderes als durch die Kommunikation über sich selbst zusammengehalten, schien in den 1990er-Jahren noch zu formal und inhaltlich unterbestimmt. Inzwischen kann man sich fragen, ob nicht genau dieser Zustand eingetreten ist: Wir kommunizieren, also sind wir. Damit verflüssigt sich sozusagen der Boden unter unseren Füßen. Geländer und Haltegriffe wie die Klärung von Sachverhalten oder die Werteorientierung werden undeutlich oder schwinden. Eines der Mittel, mit denen Halt auf sich verflüssigendem Boden gesucht wird, ist ein Phänomen, das ich „eruptive Vereindeutigung“ nenne.

In einem gesellschaftlichen Klima, in dem nahezu alles gesagt und behauptet werden kann und in dem mit mehrdeutigen Grenzverletzungen Politik gemacht wird, kommt es situativ zu eruptiven Vereindeutigungen. Eruptiv ist die Geschwindigkeit, mit der binnen Tagen oder Stunden durch rekursive Interaktionen Stimmungen aufgebaut werden, die Klarheit erfordern und suggerieren: „Dieses oder jenes geht gar nicht! Da muss man einschreiten! Jetzt muss ganz schnell gehandelt werden!“ Vereindeutigungen sind es insofern, als im unüberschaubaren Feld des „alles ist möglich, auf nichts ist mehr Verlass“ Standpunkte gesucht werden, von denen aus Abgrenzungen vollzogen werden.

Unabhängig von „Freund oder Feind“

Entscheidend ist, dies als Kommunikationsmodell zu verstehen, das unabhängig von „Freund oder Feind“ funktioniert und auf jedweden Sachverhalt und gegen jedwede Person angewandt werden kann. Es wird durch einen beliebigen (aber möglicherweise bewusst gesetzten) Impuls ausgelöst und verläuft über die Stufen Empörung, Herstellung von Eindeutigkeit, Abgrenzung. Die digitale Kommunikation mit ihrer Geschwindigkeit und teilweise personellen Anonymisierung lässt vernunftgerichtete Klärungen des Sachverhalts kaum zu. So kann man ahnen, dass – wenn dies denn Schule macht – nicht nur berechtigte und notwendige Abgrenzungen vollzogen werden, sondern auch höchst ungerechte und ungerechtfertigte.

Ihre Energie bezieht diese Dynamik aus vielen Quellen. Eine Währung der digitalen Welt ist die Aufmerksamkeit, die man für seine kommunikativen Beiträge bekommt. Die Verflüssigung des Bodens beziehungsweise die Suche nach Halt auf diesem unsicheren Grund scheint aber auch eine Vereindeutigung von Moral hervorzurufen, die zu einer Überhitzung führen kann. Nicht die moralischen Ansprüche an sich sind das Problem – für sie sollte die Kirche von ihrem Auftrag her ganz besonders einstehen – sondern deren eruptive Verabsolutierung. Unter den Splittern einer so explodierenden Moral können die Klärung von Sachfragen und ein menschenzuträgliches Maß der Ansprüche begraben werden.

Was kann man tun? Einfach Aussteigen aus unserer Welt geht nicht. Aber man kann versuchen, die Geschwindigkeit zu verlangsamen. Man kann vernunftgerichtete Diskurse der Sachklärung stärken. Man kann Empörung einen Moment aushalten und differenziert auf ihre Gründe prüfen. Man kann mit methodischem und abstrahierendem Blick Distanz zum Geschehen herstellen. Man kann, um für die Zukunft eine klarere Entscheidungsgrundlage zu haben, in seine „good-governance-Regeln“ Rücktrittskriterien aufnehmen, die für alle gleichermaßen gelten.

Nicht rezepthaft, sondern methodisch reflektiert

Man kann einen Beitrag des christlichen Glaubens darin sehen, für diese Verlangsamungen und Klärungen, für das Aushalten kritischer Dynamiken um die innere Kraft und Gelassenheit der Kinder Gottes zu bitten. Man kann aus dem christlichen Glauben, wenn auch nicht rezepthaft, sondern methodisch reflektiert, ethische Orientierungen gewinnen. Der christliche Glaube kann Fragen einspielen wie die, ob beziehungsweise wie unser Glaube an Vergebung praktische Konsequenz gewinnen kann, ohne etwas zuzudecken. Was heißt es eigentlich, dass im Zentrum unseres Glaubens die Versöhnung steht? Aber solche Überlegungen könnten als Moralisierung verstanden werden, die niemandem hilft. Die großen Scheine des Glaubens in die kleinen Münzen des Alltags zu wechseln, ist schwer genug. Manchmal ist es schon gut, einfach innezuhalten. Tempus fugit – amor manet.

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Horst Gorski

Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover. 


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