Benedikt Kristjánsson gilt mit Recht als besonders heller neuer Stern am Tenorhimmel. Das liegt zum einen an der kraftvollen und trotzdem stets leichten Stimmfärbung. Zum anderen legt er eine Gestaltungssensibilität und -schärfe an den Tag, die ihresgleichen sucht. Bekannt wurde der Mittdreißiger (* 1987) durch seine „Johannespassion à trois“, die er 2019 zusammen mit der Cembalistin Elina Albach und dem Perkussionisten Philipp Lamprecht vom Ensemble Continuum zum ersten Mal aufführte. Am Karfreitag 2020, als Corona alle Passionsaufführungen in Präsenz unmöglich machte, wurde diese Passion vor einer halben Million Menschen weltweit per Livestream aus der Leipziger Thomaskirche übertragen.
Spätestens seitdem kennt die Welt Kristjánsson, der mit Leib und Seele tief in die Vokalwelt Johann Sebastian Bachs eingedrungen ist. Das beweist seine neue CD, auf der acht Arien und vier Rezitative aus Bachs Kantatenwerk neu gruppiert und teilweise auch neu arrangiert wurden. Kristjánssons Idee ist eine Art Judas-Oratorium, das heißt, der isländische Tenor nimmt die Perspektive des biblischen Apostels ein und illustriert dessen Gefühlswelt zwischen dem Verrat und dem dann folgenden Suizid mit Material aus dem Universum der Kantaten Johann Sebastian Bachs. In seinem „Oratorium“ geht es darum, die jahrtausendealten Stereotypen in Bezug auf Judas zu hinterfragen und mit einer anderen Deutung zu versehen. Der Sänger liefert dazu eine sehr überzeugende Darlegung im Beiheft der CD, deren Details jetzt hier zu weit führen würden und jenen vorbehalten bleiben sollen, die diese Aufnahme ehrlich als Silberling erwerben und nicht nur bei Streamingdiensten konsumieren.
Abgesehen davon aber lohnt es sich, auch losgelöst vom konkreten Bezug auf den biblischen Judas diese Musik zu hören, diese Texte zu meditieren und dies alles tief in sich aufzunehmen. Denn letztlich präsentiert diese Abfolge paradigmatisch die Zweifel, Kämpfe und Hoffnungen eines Menschen, der sein Leben bedenkt, egal, ob er nun dem Tod unmittelbar ins Auge sehen muss oder will wie der biblische Judas. Insofern eine wahrlich goldene Mischung. Und das Beste dieser durchgängig berückend musizierten Aufnahme kommt zum Schluss: Kristjánsson zelebriert die Arie „Ich fürchte nicht des Todes Schrecken“ (aus BWV 183) gefühlt in Zeitlupe (Gesamtlänge über 12 Minuten). Es ist, als singe sich der junge Tenor dieses Nichtfürchten-Müssen vollkommen in Herz und Eingeweide hinein. Durch diese berührende Tröstung gestärkt beschließt dann die Arie „Ich traue seiner Gnaden“ (BWV 97) die CD. Und? Muss man danach sterben wie Judas? Nein, man kann getrost ins Leben gehen! Auf jeden Fall aber sollte man diese CD gehört haben.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.