Nichts Neues

Friedensethischer Diskurs

Die Intention des ersten Textes von Rochus Leonhardt „Die Friedensethik Martin Luthers“ ist klar: Es soll verdeutlicht werden, dass das Recht auf Selbstverteidigung und die Pflicht zur Nothilfe systematisch in die reformatorische Theologie eingeschrieben sind. Zugrunde liegen Luthers Unterscheidung der Regimenter und die Begrenzung der legitimen Gründe der Lehre vom gerechten Krieg für die Anwendung militärischer Kriegsgewalt auf die Selbstverteidigung beziehungsweise Nothilfe. Allerdings ist dies nicht neu. Schon 2007 hat Volker Stümke mit seiner Studie „Das Friedensverständnis Martin Luthers“ das Wesentliche gesagt. Leonhardt erwähnt diese Arbeit zwar, bezieht sich aber nicht auf sie. Auch die neuere internationale Forschung findet keine Berücksichtigung. Dabei wäre doch mit Svend Andersens „Macht aus Liebe. Zur Rekonstruktion einer lutherischen politischen Ethik“ die neuere skandinavische Forschung leicht zugänglich. Es steht außer Zweifel, dass der Verfasser reiches historisches Material präsentiert, insbesondere auch in Auseinandersetzung mit Erasmus. Allerdings ist nicht so recht erkennbar, was dies zur aktuellen Fragestellung Neues beiträgt, zumal der Autor einiges schon an anderer Stelle publiziert hat.

Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Studie des Bandes von Volker Gerhardt „Das Neue in Kants Theorie des Friedens“. Zu der darin traktierten Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat der Autor gerade die zweite Auflage einer Monografie vorgelegt. Gerhardts Pointe liegt darin, dass er die Friedensschrift durch die später erschienene Rechtslehre ergänzt und so zeigen kann, dass Kant kein pazifistisches Programm verfolgt. Denn Kant postuliert das Recht zur Selbstverteidigung und Nothilfe für den Fall, dass die Verrechtlichung von Konflikten scheitert. Dies ist angesichts der verengten Kant-Rezeption der Heidelberger Schule und des Programms „Frieden durch Recht“, welches der (noch) aktuellen EKD-Denkschrift eingeschrieben ist, eine heilsame Erinnerung.

Der letzte Text von Johannes Wischmeyer versucht, die friedensethische Debatte seit der Synode 2019 angesichts der russischen Offensive in der Ukraine im Februar 2022 zu strukturieren. Irritierend ist, dass sein Zuständigkeitsbereich im EKD-Kirchenamt dieses Themenfeld gar nicht umfasst. Bei diesem Beitrag stellt sich die Frage nach der Auswahl der Referenztexte. Bei den fachwissenschaftlichen Beiträgen ist die Auswahl nicht nachvollziehbar. Bei den Online-Beiträgen kommen überproportional solche vor, die in der Online-Ausgabe dieser Zeitschrift publiziert wurden. Bei den printmedialen Interventionen sind es vor allem solche aus der FAZ, ohne dass dies begründet wird. Deutlich wird das Anliegen, dass die evangelische Kirche die Realität des Krieges ernst nehmen und ihre bisherige Position überdenken müsse. Dabei wird die öffentliche Aufgabe der Kirche betont. In dem Text finden sich wichtige Gedanken, zugleich fehlt eine angemessene Einordnung in den weiteren friedensethischen Diskurs.

Die Beiträge des Bandes sind in sich gelungen und bieten substanzielle Resultate. Für die aktuelle friedensethische Debatte – und das ist ja der Anspruch – lässt sich allerdings nur begrenzter Mehrwert erkennen. Dies ist vielleicht auch nicht ganz überraschend, hat sich doch keiner der Autoren (sic!) vorher intensiver mit dieser beschäftigt, was man den Beiträgen auch anmerkt. Es bleibt die Vermutung, dass schnell ein Band auf dem Printmarkt platziert werden sollte. Dies setzt eine Folge mehrerer qualitativ sehr disparater Bände im Bereich Friedensethik desselben Verlages fort, die allerdings außerhalb einer Reihe, also auch ohne Begutachtung, wohl in der Hoffnung auf Aktualität publiziert wurden. Diese werden auch in dem vorliegenden Band beworben. Verlegerische Qualität geht anders.

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Foto: privat

Michael Haspel

Prof. Dr. Michael Haspel lehrt Systematische Theologie an der Universität Erfurt und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.


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