Flügelleicht

Keith Jarrett und der Bachsohn

Das Klavierspiel Keith Jarretts ist ein Bekenntnis – oder eine Offenbarung. Entscheidend dafür ist wohl der Moment, in dem es einen ergreift. Offenbarend ist seine Interpretation des Wohltemperierten Klaviers (BWV 846–893) von Altmeister Johann Sebastian Bach (1685–1750) – eine der drei überzeitlich besonderen Einspielungen neben der erhaben durchformten von Mauricio Pollini und der mit Haut und Haar in Besitz nehmenden durch Glenn Gould. Bekenntnishaft hingegen hört sich diese Einspielung der Württembergischen Sonaten (Wq 49) von Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788) an – Bachs zweitem und am erfolgreichsten aus seinem Schatten tretenden Sohn. Keith Jarrett wäre nicht Keith Jarrett, würde er nicht auch hier ganz aus eigener Intention heraus agieren und die Musik als Material, nicht als Evangelium nutzen. Das heißt: Er überträgt die sechs Sonaten – eingespielt auf zwei CDs – auf sein Instrument: auf das Klavier.

Komponiert hat Carl Philipp Emanuel Bach diesen Zyklus für das Cembalo. Was darauf im Silber des Saitenspiels rasend schnell verklingt und dynamisch an seine Grenzen stößt, fasst im Klavier ganz anders Fuß. Hier lässt sich’s tastenstreichelnd liebkosen, mit berserkerhafter Kraft zerreißen und verwehend auf die Weide der Zeit treiben, dass daraus ein neues Bild entsteht – ein ganzer Film, dem keine Farbe fremd ist. Dergestalt ist auch das Spiel Keith Jarretts – sei es als Jazzer solo oder im Wechselspiel mit allen Größen und Legenden der Zeit, mit denen er musiziert hat – oder im Rückzug auf die alte, die Bachsche Musik, die schon zwischen Vater Johann Sebastian und Sohn Carl Philipp Emanuel voller Gegensätze, aber da wie dort voller Erhabenheit und Schönheit ist in ihrer klingenden Weltsicht und Erkenntnisvielfalt. So lässt sich auch diese Aufnahme, die bereits aus dem Jahr 1993 stammt, aber heuer, 2023, erstmals veröffentlicht wird, hören.

Der junge Bach ist ein Bach, aber ein neuer. Ein Bach, der aus den Tiefen kontrapunktischer Strenge aufsteigt zum stetig sich ändernden Licht der Zeit, darin seiner selbst gewahr wird und diese Innenschau nach außen trägt – mal versponnen-versonnen, sich aufreibend im kunstvollen Gestalten der Welt und ihrer Fugen, mal temperamentvoll parlierend Berge versetzend und übermütig die Weite der Welt durchmessend wie Heidi die Bergwiesen. Das ist die Musik Keith Jarretts – und das ist sein Spiel im Ergreifen des Möglichen und Durchspielen aller seiner Facetten. Diesen Mut hat Carl Philipp Emanuel Bach in Auflehnung gegen das Korsett väterlicher kompositorischer Diktion bewiesen – und diesem Mut gibt Keith Jarrett sein Bekenntnis mit, indem er jeder musikalischen Nuance Raum lässt, ausspielt, was sich nach freiem Klang sehnt, und natürlicher Sehnsucht mit natürlichem Ausdruck begegnet, den die Zeit braucht.

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