Haben Sie auch manchmal noch die vielen singenden, betenden, diskutierenden, fröhlichen Menschen vor Ihrem inneren Auge? Jetzt, wo schon wieder etwas Zeit ins Land gegangen ist? Ich schon, denn schön war’s gewesen in Nürnberg. Manche Albträume, dass es nach der Pandemie, die den Ökumenischen Kirchentag vor zwei Jahren fast vollständig in digitale Formate zwang, nichts mehr werden würde mit dem fröhlich-streitbaren Glaubens- und Diskutierbasar namens Kirchentag, hat der Zauber von Nürnberg gebannt: Hurra, wir leben noch!
Natürlich genügt das jenen Protestant:innen nicht, die im prophetischen Furor die Welt retten wollen. Denen war vieles zu selbstbespiegelnd, zu harmlos und zu wenig politisch. Für solche Stimmen mag das Fazit des Journalisten Christoph Fleischmann in Publik Forum stehen: „Der Kirchentag als Zeitansage an die Politik: Das war einmal.“ Er mokierte sich darüber, dass die Politikerinnen und Politiker ihr Publikum lobten und damit leicht für sich gewannen. Zu leicht? Vielleicht, aber nach den düsteren Corona-Tagen war der Hunger nach Selbstbestätigung groß.
Die Besucherzahl war nummerisch eher mau, jedenfalls verglichen mit dem letzten Vor-Corona-Kirchentag 2019, aber gefühlt großartig: 70 000 Menschen, irgendwie mit Tages- oder Dauerkarte – das ist in diesen Tagen viel. Und wie immer: Was den einen ganz unpolitisch daherkam, war anderen viel zu oder ausschließlich politisch. Die verrücktesten Kapriolen schlugen wie so häufig WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt und seine journalistischen Bataillone. Diese diffamieren die evangelische Kirche seit langem als „links-grün“, um andere, sehr konservative und innerlichkeitsfixierte Formen des Christentums zu propagieren. Dem sollte aber mit Argumenten und klarer Kante begegnet werden und nicht mit argumentationsloser Arroganz. So konzedierte Kirchentagspräsident Thomas de Maizière bereits im Vorfeld in einem DLF- Streitgespräch mit Poschardt, dass nicht alles an dessen Kritik daneben sei. So gilt es, weiter zu diskutieren, denn verengte Meinungskorridore und denkfaule Empörung, die sich in manchen Kreisen eingeschlichen haben, führen nicht weiter.
Auch das Format des Kirchentages stand in der Diskussion: Müssen es wirklich nächstes Mal wieder über 2 000 Veranstaltungen sein? Wären nicht 1 000 genug? Schließlich ist alles in Zeiten schwindender Beteiligung und damit schwindender zahlender Besucherinnen und Besucher auch ein Kostenfaktor. Da ist wohl in Sachen Quantität beim Kirchentag künftig etwas mehr „think middle“ und nicht „think big“ angezeigt. Geht auch.
Mit gewinnender Performance vorgetragen, aber inhaltlich polarisierend war die Nürnberger Abschlusspredigt von Pastor Quinton Ceasar aus dem ostfriesischen Wiesmoor. Der gebürtige Südafrikaner las seiner evangelischen Kirche deutlich die Leviten: Sie sei rassistisch und für viele kein sicherer Ort. Das sorgte im Nachgang für viel Kritik, und es gab auch hasserfüllte, rassistische Reaktionen. Deswegen gilt neben „Hurra, wir leben noch!“ auch weiterhin: „Darüber müssen wir dringend reden“. Leider.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.