„Beteiligung ist unsere Stärke“
Am 8. Juli 1948, vor genau 75 Jahren, wurde die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche, kurz VELKD, gegründet. Ralf Meister, Leitender Bischof erklärt im zeitzeichen-Gespräch, wofür sie da ist und warum es sie auch weiterhin geben sollte.
zeitzeichen: In der Bibel lesen wir, dass Abraham 75 Jahre alt war, als der Ruf Gottes an ihn erging: „Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Verwandtschaft in ein Land, das ich Dir zeigen werde.“ Und Abraham ging einer großen Zukunft entgegen. Die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands – kurz VELKD – feiert am 8. Juli ihren 75. Geburtstag, und man hat den Eindruck, viele fragen sich: „Warum muss es die VELKD heute noch geben?“
Ralf Meister: Weil es jetzt erst richtig los geht, denn 75 Jahre sind ein gutes Alter! Aber im Ernst: Wir müssen unter den veränderten sozialen, religiösen Bedingungen und unter den veränderten Bedingungen innerhalb der evangelischen Kirche in unserem Land die Arbeit der VELKD deutlich auf die Gegenwartsfragen beziehen, also deutlich fragen: Wohin soll es mit der VELKD in der Zukunft gehen?
Wir sind gespannt …
Ralf Meister: Die Gründung der VELKD am 8. Juli 1948 erfolgte ja nicht aus heiterem Himmel, sondern schon im 19. Jahrhundert wuchs das Bedürfnis, dem lutherischen Bekenntnis, also dem verbindenden Element der verschiedenen lutherischen Kirchen, eine Ordnungsform in einer gemeinsamen Kirche zu geben. Mit der Allgemeinen Lutherischen Konferenz 1868 in Hannover war dieser Prozess eröffnet. Ein Prozess, an dessen Ende nach wechselvollen Jahrzehnten, in denen das landesherrliche Kirchenregiment abgeschafft wurde, und nach den Erfahrungen der Nazizeit die VELKD entstand. Die Fragen der Gegenwart sind: Wie können wir unter den Bedingungen der Vereinzelung und Polarisierung in unserer Gesellschaft eine Gemeinschaft von Kirchen als etwas Verbindendes, Verlässliches anbieten, das dem Leben Halt gibt? Wie können wir die Botschaft von der Rechtfertigung aus Glauben tröstend Menschen weitergeben, die unter Leistungsdruck im Beruf stehen oder sich in den Sozialen Medien dem Druck, Aufmerksamkeit zu finden, ausgesetzt sehen?
Warum kam man damals nach dem Krieg nicht auf den Gedanken, dass eine Evangelische Kirche in Deutschland reicht?
Ralf Meister: Zum damaligen Zeitpunkt war man einfach noch nicht so weit, einen überregionalen Zusammenschluss mit allen Spielarten reformierter reformatorischer Kirchen zu bilden. Bis zur Verabschiedung der Leuenberger Konkordie 1973 konnten die in der EKD zusammengeschlossenen lutherischen, unierten und reformierten Kirchen nicht einmal Abendmahl gemeinsam feiern. Insofern war diese überformende Identitätsbildung bezogen auf die lutherischen Kirchen plausibel. Hinzu kam, dass die lutherischen Kirchen nach dem Krieg sofort wieder auf Verbindungen in der internationalen Ökumene zurückgreifen und diese nutzbar machen konnten. Das war damals für internationale Hilfe durch lutherische Kirchen weltweit ganz entscheidend. Außerdem spielten Liturgie und Hymnologie eine große Rolle – aus heutiger Sicht vielleicht eher ästhetische Fragen – und natürlich als vielleicht herausforderndste Aufgabe die theologische Grundsatzarbeit. Denn nach dem Krieg gab es theologisch viel aufzuarbeiten: Man musste die Frage beantworten, wie die eigene Theologie in manchen Bereichen so verkommen konnte, dass sie sich der NS-Ideologie dienstbar gemacht hat.
Nun bedeuten 75 Jahre VELKD gleichzeitig auch fünfzig Jahre Leuenberger Konkordie, die 1973 viele reformatorische Kirchen lutherischer, reformierter und unierter Prägung in Europa verabschiedeten und die gegenseitige Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft ermöglicht hat. Deshalb nochmal die Frage: Warum muss es heute die VELKD noch geben?
Ralf Meister: Es hat gedauert, bis die VELKD dem Leuenberg-Prozess zugestimmt hat. Aber letztlich war klar, dass die Gemeinschaft der reformatorischen Kirchen, die in Deutschland nicht zuletzt durch die Notsituation der Naziherrschaft entstanden waren, nicht verspielt werden durfte, sondern auf eine neue Stufe gehoben werden musste. Ich möchte Ihre Frage differenzieren: Alle Gestalten von Kirche sind vorläufig und wandelbar. Keine muss es geben, die VELKD nicht, aber auch die EKD nicht und übrigens die Landeskirchen in ihrer heutigen Gestalt auch nicht. Das Gemeinsame – die uns verbindende Einigkeit in Christus – ist stärker als die Verschiedenheit. Diese Erkenntnis entspricht übrigens dem, was im zweiten Teil des siebten Artikels der Confessio Augustana VII steht: „(E)s ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden, wie Paulus sagt: ‚Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe‘ (Epheser 4,4.5).“ Soweit die CA. Und wenn Jesus in Johannes 14,2 sagt „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“, dann sollten wir uns als Kirchen gut überlegen, wie wir unsere Häuser einrichten. Das ist eine Frage, die jede Generation für ihre Gegenwart beantworten muss. Wir können nur sagen, welchen Sinn die Existenz der VELKD in der EKD für uns heute hat. Andere Generationen werden in ihrer Verantwortung neu zu entscheiden haben.
Aber wäre die VELKD dann nicht eben – um im Bild zu bleiben – eine schöne Wohnung in dem Haus, das EKD heißt? Und was bedeutet es konkret, dass die UEK, die Union Evangelischer Kirchen in der EKD, der Zusammenschluss der reformierten und unierten Landeskirchen in der EKD, auf der Synodaltagung im vergangenen Herbst beschlossen hat, die Vollkonferenz, also die UEK-Synodalversammlung, und auch das Präsidium der Vollkonferenz der UEK auszusetzen und nur noch durch einen Konvent der leitenden Geistlichen und Juristen führen zu lassen? Könnte die VELKD nicht auch auf ein solches schlankeres Model zugehen?
Ralf Meister: Es mag manchen aus der Ferne so erscheinen, als seien inzwischen alle Landeskirchen im Grunde gleich. Das stimmt aber nicht. Es gibt viele theologisch oder regional begründete Unterschiede, eine Vielfalt, die Reichtum ist. In dieser Vielfalt hat die VELKD mit ihren sieben Gliedkirchen die Rolle, das Erbe lutherischer Theologie – zum Beispiel die Rechtfertigung aus Glauben, die Freiheit und die Verantwortung des Gewissens, die Bildungsverantwortung in der Nachfolge von Luthers Katechismen – in die Gegenwart einzubringen. Das ist gestaltete Vielfalt in der Einheit der EKD. Die Geschichte der UEK-Kirchen ist ja eine ganz andere. Die UEK hat sich von vornherein als vorläufig verstanden. Dieser Zusammenschluss war nie in dem Maße wie die VELKD identitätsbildend. Auch in Liturgie- und Agendenfragen gab es da immer eine große Vielfalt. Aber das Beispiel mit dem Haus der EKD trifft ja absolut zu, denn in diesem Haus in Hannover-Herrenhausen hat die VELKD in einem Flur Büros, und das ist völlig ausreichend, weil wir ja seit vielen Jahren schon mit allen im ganzen Haus zusammensitzen – dem Verbindungsmodell seit 2007 sei Dank! Aber für die Fragen der internationalen Ökumene und der theologischen Grundsatzarbeit bleibt es sinnvoll, wenn die lutherischen Landeskirchen dies im Rahmen der VELKD gemeinsam vornehmen. Außerdem machen wir das ja nicht exklusiv für uns, sondern wir stellen die Ergebnisse anderen zur Verfügung, das neue Gottesdienstbuch von 2018 ist ja das beste Beispiel.
Theologische Grundlagenarbeit und Liturgie – schön und gut. Gilt also der alte Spruch immer noch: Die EKD macht Politik und Gesellschaft, und die VELKD glaubt an Gott?
Ralf Meister: (lacht) Wer Gottesbeziehung und Weltverantwortung trennt, hat vom Auftrag der Kirche wenig verstanden. Glaube ist ja nicht das Handeln einer Institution, sondern eine geistliche, theologisch verantwortete Haltung in der Welt. Nichts trennt an diesem Punkt die EKD von der VELKD.
Nun hat sich ja aber durch die Entscheidung der UEK vom vergangenen Herbst, die Leitung ihres kirchlichen Zusammenschlusses ohne synodales Element ein stückweit in die Unsichtbarkeit zu verlegen, doch das Gegenüber von VELKD und UEK grundlegend verändert. Wie beurteilen Sie das?
Ralf Meister: Ob das so grundlegend ist, weiß ich nicht. Die UEK bleibt als Körperschaft bestehen. Sie wird aber ihre Gremien verkleinern, jedoch um den Preis, dass sie nun in ihren Gremien auf einmal auf Ehrenamtlichkeit verzichtet. Demgegenüber empfinde ich es schon als eine Stärke der VELKD, dass wir ein klassisches Synodalprinzip haben, und wir sind gerade dabei, das noch auszuweiten mit Blick auf die Beteiligung der jüngeren Generation und durch den Ausbau von Gendergerechtigkeit. Das Synodalprinzip ist ein klassisches Partizipationselement unserer Kirche, das elementar wichtig ist.
Die internationale lutherische Ökumene mit dem Vatikan gehört in Deutschland zu den Aufgaben der VELKD. Vor zwanzig Jahren gab es große Aufregung, als der damalige Leitende Bischof, der bayerische Landesbischof Johannes Friedrich, anregte, über eine eingeschränkte Anerkennung des Papstamtes als Sprecher der Christenheit nachzudenken – eine Art symbolisches Petrusamt. Wäre das heute auch noch eine gute Idee?
Ralf Meister: Im Reformationsjubiläum 2017 und auch schon 1999 durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre haben wir im Dialog mit der römisch-katholischen Kirche beschlossen, dass die Verurteilungen des 16. Jahrhunderts nicht mehr gelten. Wenn wir dies verinnerlichen, dann ist es doch überhaupt nicht problematisch, den Bischof von Rom, den Papst, als eine symbolische Repräsentanz der Kirche Jesu Christi zu würdigen und zu schätzen. Ich tue dies ohne Zweifel!
Die Medien weltweit auch …
Ralf Meister: Da spricht doch nichts dagegen. Und wer nach dem prominentesten christlichen Vertreter sucht, der zum Beispiel in internationalen Konflikten Friedensinitiativen vermitteln könnte, der kommt sicher nicht zuerst auf die Ratsvorsitzende der EKD oder den Leitenden Bischof der VELKD. Es gibt beziehungsweise gab in unseren Zeiten wenige Menschen, die eine ähnliche diesbezügliche Reputation oder Aura hatten. Eine Zeitlang gehörte der Dalai-Lama dazu, die Queen natürlich und für einige sogar Barack Obama. Aber was den Papst betrifft, so ist seine gewisse Sonderstellung in der Weltchristenheit für mich völlig unstrittig, und das hat überhaupt nichts mit irgendeiner Anerkennung im kirchenrechtlichen oder sonstigem rechtlichen Sinn zu tun, sondern ausschließlich mit der symbolischen Repräsentanz, die dieser Christ in seiner außergewöhnlichen Position und Stellung innehat. Und die er ausübt – auch darin besteht seine Glaubwürdigkeit - mit allen menschlichen Stärken und Schwächen.
Eine symbolische Repräsentanz des Papstes mit dem Verzicht auf seinen Jurisdiktionsprimat und den Anspruch, in Lehrfragen unfehlbar zu sein – wäre das nicht eine Grundlage, auf der der liberale, von Rom enttäuschte Teil der deutschen Katholiken trotzdem – Stichwort Synodaler Weg – seine Verbindung zum Papst und zum Vatikan konstruktiver gestalten könnte?
Ralf Meister: Darüber haben wir nicht zu befinden. Aber die Situation der deutschen Ökumene mit dem römischen Katholizismus ist nahezu einmalig auf der Welt. Bei uns sind die beiden großen Konfession etwa gleich groß, es gibt viele konfessionsverbindende Ehen, es gibt überhaupt eine große Nähe mit unseren katholischen Geschwistern – leider noch nicht im Sakramentsempfang, aber doch im täglichen Miteinander. Und das alles in einem Land mit einer demokratisch geprägten Kultur, mit einem hohen Selbstverständnis der Autonomie des Menschen, mit verbürgten Freiheitsrechten, die auch noch mal ihre Dynamik haben. Das macht hierzulande vieles leichter, aber die römische Kurie hat einen eigenen Blick darauf.
Die VELKD ist eine Kirche aus Kirchen, die ein gemeinsames Bekenntnis eint – nämlich die Confessio Augustana von 1530. Warum ist ein Bekenntnis für die lutherische Kirche so wichtig?
Ralf Meister: Die Kategorie Bekenntnis ist heute schwer plausibel zu machen. Ein Bekenntnis kann ein performativer Sprachakt sein. Ich bekenne meiner Ehefrau, dass ich sie lieben will, bis dass der Tod uns scheidet. Aber ich weiß schon in dem Moment, in dem ich das Bekenntnis ablege, dass die Bewährung dieses Bekenntnisses mir immer voraus liegt. Ich kann nur darauf vertrauen. Das empfinde ich als hilfreich und produktiv. Aber das Wort „Bekenntnis“ hat verschiedene Bedeutungen. Die reformatorischen Bekenntnisschriften sind gewissermaßen eine theologische Brille, durch die das Evangelium gelesen wird: Rechtfertigung aus Glauben, die legitime Vielfalt kirchlicher Gestalten, die Betonung der Freiheit und Verantwortung der Gewissen, der Bildungsauftrag u.v.m. Das lutherische Bekenntnis zur Grundlage kirchlichen Handelns zu machen, heißt, diese Brille bei der Auslegung des Evangeliums auch für die Gegenwart zu benutzen. Was nicht ausschließt, dass neue Aspekte hinzukommen. Deshalb wurde ja auch die Barmer Theologische Erklärung von 1934 aufgenommen, weil sie den Blick für Freiheit des Evangeliums von staatlicher Bevormundung schärft. Vielleicht kann man es auch so plausibilisieren: Staaten geben sich zwar kein Bekenntnis im engeren Sinne, aber eine Verfassung. Und die ist ja nicht im Moment der Verabschiedung gelebte Realität in einem Staat, sondern sie gewährt einen Raum, in dem die Freiheitsrechte und auch die Pflichten seiner Bürgerinnen und Bürger definiert und umrissen sind. Das Großartige an unserem Grundgesetz ist, dass die ersten 19 Artikel, die Grund- und Freiheitsrechte, den Raum beschreiben und definieren, in dem wir uns in unserem Land bewegen. Wenn wir nun wieder auf unser kirchliches Bekenntnis schauen, zum Beispiel auf den vielzitierten Artikel VII der Confessio Augustana – dann wird auch da ein Freiheitsraum eröffnet, unter dem wir Kirche sein können.
Aber würden dafür nicht die Bibel oder das Glaubensbekenntnis reichen? Steht da nicht alles Wesentliche drin? Wozu braucht eine Kirche noch ein eigenes Bekenntnis?
Ralf Meister: So könnte man argumentieren, zum Beispiel mit den Seligpreisungen aus der Bergpredigt. Die sind doch genug, oder? Aber möglicherweise sind sie eben doch nicht genug, sondern es braucht eine weitere Präzisierung und Formgebung, die uns hilft und Orientierung gibt. Natürlich gibt es eine untrennbare Verbindung zwischen dem Evangelium und dem Bekenntnis. Aber die Bekenntnisse legen das Evangelium auf bestimmte Herausforderungen aus. Das ist ein Reichtum aus unserer Geschichte, den wir nicht wegwerfen sollten. Das Evangelium sagt eben nicht alles, was das Bekenntnis formuliert, und das Bekenntnis ist natürlich nicht das Evangelium oder das Glaubensbekenntnis – diese Differenz gilt es festzuhalten. Um es nochmal in Bezug auf mein eigenes Leben zu sagen: Ich habe meine Frau lange geliebt, bevor ich sie heiratete. Aber uns war das nicht genug. Wir wollten ein Bekenntnis zueinander haben, dass wir in einen gemeinsamen Raum mit gemeinsamer Verantwortung hineingehen. So könnte ich es für mich beschreiben.
Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 15. Mai 2023 in Hannover.
Transparenzhinweis: In einer früheren Fassung des Gesprächs war ein Absatz über das DNK/LWB enthalten, in dem versehentlich eine falsche Information gegeben wurde.
Ralf Meister
Ralf Meister ist Landesbischof in Hannover, Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und Herausgeber von zeitzeichen.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.