Eine Verirrung

Kirche und NS-Zeit in Berlin

Im Bann des Nationalsozialismus ist der Titel des neu erschienenen Buches von Manfred Gailus. Wie in den anderen Forschungen und Publikationen des Autors fokussiert auch diese Zusammenstellung auf den Großstadtprotestantismus. Diese Einschränkung des Forschungsgegenstandes wird legitimiert durch die besondere Bedeutung Berlins als „Zentrum des deutschen Kirchenkampfes“.

Der Autor gibt einen biografischen Blick auf seinen Motivationshintergrund für die dreißigjährige Beschäftigung mit diesem Thema frei, ein in dem Fach immer noch selten anzutreffender Schritt, der bei Lesern Sympathie und Interesse wecken kann. Der Familienhintergrund ist die Erinnerungsgemeinschaft an die ostpreußische Heimat, den Krieg, die Flucht, an den Neuanfang und das Verschweigen. Gailus beschreibt die Aufarbeitung dieses Komplexes als Aufgabe einer Generation, die selbst noch in eine stark kirchlich geprägte Epoche hineingeboren wurde. Und er beschreibt das Verhältnis von Protestantismus und Nationalsozialismus, sowohl in den Auseinandersetzungen als auch in der Aufarbeitung, als eine Geschichte des durchgehenden Versagens von Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft.

Methodisch leitet sich daraus die Frage ab, wann die historische Aufarbeitung einer traumatischen Erfahrung einsetzen kann. Die Antwort des Autors ist ebenfalls biografisch und im Rückblick gleichzeitig zeithistorisch: Mitte der 1980er-Jahre oder eine Generation später.

Die Kernfrage aber ist, „Wer war überhaupt ‚der Protestantismus‘ der Hitlerzeit?“ Dazu schaut der Autor in die Zeit vor 1933. Von den etwa 4,25 Millionen Einwohnern Berlins waren 1933 noch siebzig Prozent Mitglieder der evangelischen Kirche, 15 Prozent weniger als zur Kaiserzeit. Von diesen drei Millionen Protestanten hatten die meisten keine kirchliche Bindung. Gailus geht von „zwei- bis dreihunderttausend Personen“ aus, die sich zu „ihrer“ Kirche hielten, und dies zahlenmäßig mehrheitlich in einem bürgerlich-kleinbügerlichen Milieu, also bereits weit entfernt von einer „Volkskirche“.

Überall dort, wo kirchlicher Einfluss bestand, wurden dem braunen Geist schon vor 1933 die Tore geöffnet. Der Kirchenkampf war kein Kampf gegen das Regime, sondern eine innerkirchliche Auseinandersetzung um Freiheiten der Kirche oder „Gleichschaltung“ in einem totalitären Staat.

Eine Stärke des Buches ist, dass nicht nur die Akteure mit einem NSDAP-Parteiabzeichen materialreich geschildert werden, sondern auch Personen der innerprotestantischen Opposition. Ausführlich werden die feindlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kirchenparteien und Personen gezeigt. Einen besonders großen Raum widmet das Buch der Opfergruppe Christen mit jüdischem Familienhintergrund.

„Eine bisweilen enthusiastische geistlich-religiöse Kriegsbegleitung reichte über die Deutschen Christen und die kirchliche Mitte bis in die Reihen der Bekennenden Kirche hinein“, diagnostiziert der Autor seine empirischen Befunde. Das Schlusskapitel ist der Nachkriegszeit gewidmet und darin vor allem der prägenden Gestalt von Otto Dibelius. Dieser verfolgte mit den Worten des Autors „einen zentristischen Kurs“. Eine Entnazifizierung fand unter diesen Bedingungen nicht statt, die Praxis verlief „zögerlich, widerwillig, stets diskret abgeschirmt“.

Die zeitgeschichtliche Entwicklung nach 1945 reagiert auf andere Dynamiken als vor 1945 mit Einfluss auf die Aufarbeitung der schwerwiegenden Verstrickungen der Kirche in das NS-Regime. Es bietet sich, sachlich betrachtet, ein durchaus anderes Bild, als es in dem genannten Kapitel dargestellt wird, wenn die kirchliche Praxis in Bezug auf die Friedensfrage, Apartheit und Rassismus, soziale Teilhabe, „Stadtsanierung“, Jugendkultur und Migration in die Betrachtung eingeschlossen wird. Ost und West der Kirchenregion haben im urbanen Großraum zu unterschiedlichen Antworten gefunden, aber diese wurden implizit wie explizit diskursiv in Beziehung zu der nachwirkenden Epoche des Nationalsozialismus gesetzt. Manfred Gailus kehrt am Ende seines Buches zum Ausgangspunkt zurück, seinem Interesse an einer historisch-wissenschaftlichen Aufarbeitung als Generationenaufgabe. Bis dahin ist diesbezüglich sicher zu wenig geschehen, aber seitdem doch eine ganze Menge – und mehr, als es in dem Schlusskapitel den Eindruck macht.

Das Buch ist flüssig geschrieben und bringt vor allem einschlägige und anschauliche Beispiele aus dem Forschungsarsenal des Autors. Schwächen hat das Buch vor allem in den Ausführungen zur Nachkriegsepoche, die aber auch nicht im eigentlichen Forschungsfokus steht. Als moralische Instanz und mit der Mahnung, bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Zeit nicht nachzulassen, nimmt Manfred Gailus in seinem Buch und den zugrundeliegenden veröffentlichten Forschungen, seinem Lebenswerk, eine beispielgebend verantwortliche Haltung für diese Generation ein.

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