„Der Klassismus wirkt immer wieder“

Gespräch mit der Theologin und Buchautorin Sarah Vecera über kirchliche Kronleuchter, die Scham der Armen und Wege aus der Diskriminierung
Sarah Vecera beim Eröffnungsgottesdienst des Ökumenischen Kirchentages 2021 in Frankfurt.
oto: ÖKT/Philip Wilson
Sarah Vecera beim Eröffnungsgottesdienst des Ökumenischen Kirchentages 2021 in Frankfurt.

zeitzeichen: Frau Vecera, Sie sind spätestens durch Ihr Buch „Wie ist Jesus weiß geworden“ zu einer vielgefragten Expertin zum Thema Rassismus und Kirche geworden. Aber Sie beschäftigen sich auch mit Klassismus und Kirche.
Wie ist es dazu gekommen?

SARAH VECERA: In meinem Buch habe ich ein Kapitel zur Frage geschrieben, warum ich nicht Pfarrerin geworden bin. Das hatte zunächst mit den Erfahrungen von Rassismus und Sexismus zu tun. Ich war auf meinem Gymnasium eine von sehr wenigen People of Colour in meiner Jahrgangsstufe. Dort wurde mir mitgegeben, ich sei zu temperamentvoll und hätte an­scheinend etwas im Blut, so dass ich mein Temperament nicht unter Kontrolle halten könne. Mir wurde also erklärt, dass ich anders bin und dass mir nicht so viel zugetraut wird wie meinen Mitschüler*innen. Aber als ich dann darüber nachdachte, warum ich mich nicht an ein klassisches Theologiestudium gewagt habe, obwohl ich doch unbedingt für
die Kirche arbeiten wollte, in der ich in meiner Jugend so viel Gutes erlebt hatte, fiel mir auf, dass da auch der Klassismus eine Rolle gespielt hat.

Inwiefern?

SARAH VECERA: In meiner Familie gab es vor mir niemanden, der oder die studiert hatte. Ich musste nachschlagen, was Kommilitonen sind. Die Fremdsprache der universitären Welt war mir fern und es gab auch niemanden zuhause, der sie mir erklären konnte. Und ausgerechnet Theologie studieren? Drei alte Sprachen, die ich alle nicht konnte, und die Aussage der Lehrerinnen, dass ich anscheinend nicht so sprachbegabt bin? Das habe ich mir nicht zugetraut. Zumal ich ja auf Bafög angewiesen war und das alles in der Regelstudienzeit hätte schaffen müssen. Arbeiten neben so einem scheinbar anspruchsvollen Studium habe ich mir auch nicht zugetraut. Ich hatte das Gefühl, ich muss sowieso schon doppelt so viel leisten wie alle anderen und alle Energie ins Studium legen.

Sie haben trotzdem Ihren Weg gefunden.

SARAH VECERA: Ja, ich habe dann erstmal an der CVJM-Hochschule Theologie studiert, denn da war alles etwas übersichtlicher, und es gab sogenanntes Schüler-Bafög, von dem ich leben und studieren konnte, ohne Schulden zu machen. Danach habe ich noch an einer Fachhochschule Sozialpädagogik und Religions­pädagogik studiert und nach mehr als fünf Jahren Berufserfahrung einen Ordinationskurs gemacht. Heute stehe ich da und leite den Silvestergottesdienst in der ARD aus dem Gasometer in meiner Heimatstadt. Ich bin da, wo ich sein wollte. Das war ein langer Weg, und es war nicht immer klar, dass ich das Ziel auch erreiche. Weil mir dieser Stall­geruch fremd war und bis heute immer wieder fremd ist. Der Klassismus der Kirche wirkt immer noch, nicht mehr so oft, aber immer wieder.

In welchen Situationen?

SARAH VECERA: Zum Beispiel in diesen schicken kirchlichen Tagungshäusern mit ihren großen Kron­leuchtern. Wow, das ist ein Ambiente. Aber es macht mich auch irgendwie klein, weil ich weiß, ich komme da nicht her. Ich bin nicht unter Kronleuchtern großgeworden, war als Kind nie in Hotels oder an feinen Buffets. Diese Codes und dieser Habitus, diese vermeint­lichen Selbstverständlichkeiten, zeigen sich auch in den kirchlichen Räumlichkeiten. Oder in den Gesprächen beim Mittagessen. Letztens saß ich mit meinen Kolleg:innen in so einem Tagungshaus beim Mittagessen, und sie unterhalten sich über ihre Väter, die Superintendenten waren, über ihre Auslandssemester in Oxford und so weiter. Ich weiß, sie würden mir wertschätzend zuhören, wenn ich meine Lebensgeschichte erzählen würde. Aber es ist eben eine große Überwindung, an so einem Tisch zu sitzen und zu sagen, dass wir uns zu Hause das alles nicht leisten konnten. Mit so etwas stört man die Harmonie, auch das lernt man schnell.

Aber Sie haben dann doch darüber gesprochen, in Ihrem gemeinsamen Podcast der Vereinten Evangelischen Mission mit Thea Hummel „Stachel und Herz“. Und Sie haben einen Post auf Instagram zu dem Thema gemacht. Gab es Reaktionen?

SARAH VECERA: Sehr viele. Viele Menschen haben mir anvertraut, dass es ihnen ähnlich ging, sie aber aufgrund von Scham nie darüber gesprochen haben. Das waren vor allem Menschen, die auch einen sogenannten sozialen Klassenaufstieg geschafft haben, sich an der Uni und in der Kirchenwelt aber oft fehl am Platz fühlen. Sie bringen andere Biografien mit, aber diese finden bei uns keinen Raum, weil sie eben nicht der privilegierten bürgerlichen Norm entsprechen. Niemand redet gern darüber, arm zu sein, und niemand gibt gerne zu, dass vieles fremd, neu und auch eben nicht selbstverständlich ist. Ich habe selber auch jahrelang über viele Dinge hinweg­gelächelt, habe so getan, als ob ich ganz genau wüsste, worum es gerade geht. Aber ich habe meine Perspektive nicht eingebracht, weil ich dachte, dass ich wohl die Einzige im Raum war, die keine Ahnung hatte. Aber nach diesem Post und dem Podcast habe ich festgestellt, dass ich gar nicht die Einzige war. Vermutlich saßen immer auch andere im Raum, die aus diesem Grund gelächelt und geschwiegen haben.

Nun ist Klassismus ja nicht nur ein kirchliches Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Die von Ihnen sehr geschätzte Literaturwissenschaftlerin Bell Hooks, die ja selber unter Rassismus und Sexismus litt, hat Klassismus als eine stark unterschätzte Kategorie der Diskriminierung beschrieben. Würden Sie dem zustimmen?

SARAH VECERA: Unbedingt. Das sehen Sie schon im Allgemeinen Gleich­behandlungsgesetz (AGB) der Bundesrepublik Deutschland. Dort werden sechs Kategorien von Diskriminierung aufgezählt: Ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter, Welt­anschauung, Behinderungen. Aber die Kategorie soziale Herkunft, also Klassismus, taucht nicht auf. Das heißt, es gibt keine rechtliche Grundlage, um diese Art der Diskriminierung überhaupt zu benennen, geschweige denn, sie anzuklagen. Dabei haben Studien längst nachgewiesen, dass Kevin und Chantal in der Schule schlechtere Beurteilungen bekommen als Lisa und Maximilian, weil man mit diesen Namen eine soziale Herkunft verbindet. Doch es gibt weder eine rechtliche Handhabe, dagegen vorzugehen, noch genügend Gelder, um gegen diese Form von Diskriminierung zu kämpfen.

Woran wollen Sie diese Form von Diskriminierung festmachen und vor Gericht bringen? Auch bei Rassismus und Sexismus würde ja niemand zugeben, dass er oder sie den Job lieber einem Mann und die Wohnung lieber einem Menschen mit heller Haut gibt.

SARAH VECERA: Aber wir würden vielleicht mehr darüber sprechen, dass es diese Form der Diskriminierung gibt. Sie ist ja zudem oft verbunden mit Rassismus und Sexismus, Stichwort Intersektionalität. Es ist doch wichtig für eine Gesellschaft offenzulegen, welche Formen der Diskriminierung wirken und wie Menschen, die davon betroffen sind, sprachfähig gemacht werden können. Und das gilt auch für eine Kirche mit ihrem Versprechen, für alle da zu sein. Das meine ich nicht als Vorwurf, sondern wirklich als Chance. Die Kirche in Deutschland hat das Glück, auch politische Stimme sein zu können. Wir können Partei ergreifen. Doch dafür müssen wir zunächst darüber sprechen und unsere eigenen Strukturen betrachten.

Das ist nicht immer angenehm und oft mit Streit und Schuldzuweisungen verbunden.

SARAH VECERA: Es geht nicht um Streiten, darum, zu „blamen“ oder irgendwem Reichtum oder Akademisierung vorzuwerfen. Damit kommen wir nicht weit. Ich glaube, dass wir auch in der Kirche einen seelsorgerlichen Ansatz brauchen, alle mit in die Verantwortung nehmen müssen und nicht mit der Schuldfrage argumentieren, sondern davon ausgehen sollten, dass die Kerngemeinde grundsätzlich alle willkommen heißt. Und dann gemeinsam darüber nachdenken, woran es liegen könnte, dass sich manche Menschen nicht willkommen fühlen. Möglicherweise müssen wir uns von alten Mustern und Selbst­bildern verabschieden. Das kann schmerzhaft sein, aber wir müssen uns auch diesem Thema stellen.

Warum ist das bislang nicht geschehen? Es gibt offenbar kaum Studien oder Literatur zu Klassismus in der Kirche.

SARAH VECERA: Wer betroffen ist, redet nicht darüber, und diejenigen, die nicht betroffen sind, sehen das Problem aufgrund ihrer Privilegien nicht. Niemand will arm sein, aber über den eigenen Reichtum reden wir ja auch ungern. Die Reichen kommen in der Bibel selten gut weg. Dabei gehören verbeamtete Pfarrer:innen mit ihrem Einkommen zur oberen Mittelschicht und umgeben sich in der Regel dann auch mit Menschen aus diesem Milieu. Und natürlich reden diese über arme Menschen und wollen ihnen helfen, aber sie gehören eben nicht dazu, sondern man wendet sich ihnen eher mit paternalistischem Blick zu. Das ist ja unser Auftrag, uns um die Armen zu kümmern. Aber niemand will die Person sein, der geholfen wird. Das ist doch beschämend. Und die werden auch nicht diejenigen sein, die neben mir im Presbyterium sitzen. Oder gar in der Synode, mit all ihren akademischen Abläufen und Regularien. Das würde auch das ganze Narrativ zerstören.

Wenn Sie schon die Leitungsgremien ansprechen. Geht es auch um Machtfragen?

SARAH VECERA: Wir müssen die Machtdynamik in den Blick nehmen. Die, die in Hierarchien oben stehen, haben die Verantwortung dafür, die Diskriminierung zu beenden, nicht die, die unten stehen. Sie müssen Räume und Strukturen schaffen, damit Menschen sich sicher fühlen und darüber reden können. Woran liegt es, dass sich Menschen mit weniger ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital bei uns nicht willkommen fühlen? Worüber reden wir beim Gemeindekaffee? Welche Perspektiven vermitteln wir? Welche Begriffe nutzen wir? Warum müssen eigentlich Menschen auf kirchlichen Websites extra auf den Button „Leichte Sprache“ klicken? Warum ist die Norm akademisierte Sprache, und warum muss ich mich entblößen und die Version für die vermeintlich weniger Schlauen anklicken, wenn ich kein Abitur gemacht habe?

Weil Theologie eben nicht immer so leicht ist? Weil rund 2 000 Jahre Kirchen- und Geistesgeschichte mit all ihrer akademischen Tradition und ihren oft komplexen gedanklichen Konstruktionen doch das ein oder andere Fremdwort brauchen oder eine längere Erklärung?

SARAH VECERA: Es ist Teil des Theolo­giestudiums, komplexe Inhalte so zu vermitteln, dass es alle verstehen. Das ist für mich eine Kernaufgabe von Pfarrer:innen. Es kann schon helfen, viel zu wissen über Dogmatik und Kirchengeschichte und die Alten Sprachen zu sprechen. Aber wenn ich am Sonntag auf der Kanzel stehe, geht es ja nicht darum zu zeigen, was ich alles weiß. Sondern darum, dass die Menschen, die zuhören, verstehen, was Gottes Botschaft ist. Und das eben in einer Sprache, die sie verstehen. Da bin ich sehr nahe bei Martin Luther.

Aber auch Pfarrer und Pfarrerinnen sind ja durch ihre jeweilige Herkunft geprägt und können sich nicht plötzlich einen anderen Soziolekt zulegen. Das wäre doch unauthentisch.

SARAH VECERA: Umso wichtiger ist es, dass das Theologiestudium re­formiert wird und Menschen wie mich damals nicht mehr abschreckt. Ist es denn notwendig, so viel Altgriechisch zu lernen, wenn ich in den Gemeinde­dienst will? Ist es nicht vielleicht not­wendiger, andere Themen in dieses Studium mithineinzunehmen, die viel relevanter sind im Jahre 2023 in einer Gesellschaft, die doch sehr viel vielfältiger ist? Und in der gerade die Kompetenzen von sogenannten Aufsteiger*innen wichtig sind? Die können sich nämlich irgendwann in Tagungshäusern unter Kronleuchtern bewegen und in den sozialen Brennpunkt mit den Jugendlichen reden und in beiden Welten nicht künstlich wirken. Ich bin mittlerweile so selbstbewusst und stelle fest, dass ich eine Kompetenz habe, die vielen Menschen in der Kirche fehlt. Ich sehe es als meine Aufgabe an, eine Brückenfigur zu sein. Die bin ich bereits in Bezug auf Rassismus, weil ich vermittelnd in der Kirche unterwegs bin. Ich habe keinen anderen Ort als die Kirche, den ich so schätze, weil mir so viel Gutes mitgegeben wurde. Deshalb will ich daran mitwirken, dass sie weiterhin relevant bleibt in unserer Gesellschaft. Und in Bezug auf Klassismus brauchen wir auch solche Brückenfiguren, die beide Welten kennen.

Was muss sich noch ändern, jenseits der kirchlichen Sprache, um den Klassismus zu überwinden?

SARAH VECERA: Kirche muss ihr Selbstbild ändern und weniger paternalistisch sein. Es gibt ja erfolgreiche Beispiele aus der City-Kirchen-Arbeit oder Fresh-X-Projekten. Wenn Kirche zu den Menschen geht und darauf hört, was sie wollen, wie man das Mit­einander gestalten kann, dann wird sie wieder attraktiv. Wir müssen den Menschen das Gefühl geben, dass ihre Perspektive, ihre Sicht auf die Dinge und auf die Welt und vielleicht sogar auf die Kirche, uns wirklich interessiert. Wir brauchen sie, damit wir überleben können als Kirche. Wir können es uns nicht mehr leisten, in einem sehr gleichförmigen Milieu von Menschen zusammen­zusitzen und uns darüber zu freuen, wenn die Kirchen wenigstens bei der Aufführung von Bach-Oratorien voll sind. Nichts gegen Bach-Oratorien, aber sie markieren immer wieder neu eine gewisse Milieugrenze. Und das können wir uns nicht mehr lange leisten.

Diskriminierung jeder Art schadet uns also selber?

SARAH VECERA: Wenn wir uns als Leib Christi verstehen, ist das genau so. Wenn der Fuß arm und durch seine soziale Herkunft benachteiligt ist, dann geht es auch die Hand etwas an. Und zwar nicht, weil die Hand helfen muss, sondern weil die Hand in ihrem Menschsein dadurch auch getroffen ist. Die Befreiung der einen hat mit unser aller Befreiung zu tun, hat Desmond Tutu mal gesagt. Und das gilt auch für Klassismus. Uns geht es nicht gut damit, und das zeigt sich ja auch darin, dass niemand arm und niemand reich sein will. Also müssen wir etwas ändern. Und das können wir gemeinsam tun, indem wir uns als Leib Christi verstehen, um uns allen zu helfen und miteinander eine Gemeinschaft zu gestalten, in der wir uns alle wohl- und willkommen fühlen und Teil von einem großen Ganzen sind.

 

Das Interview führten Stephan Kosch und Reinhard Mawick am 27. Februar 2023 via zoom.
 

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Sarah Vecera

Sarah Vecera ist Theologin, Autorin und stellvertretende Leiterin der Abteilung Deutschland der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) in Wuppertal.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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