Mehr vom Glauben sprechen

Was fehlt der evangelischen Kirche? Missionarische Leidenschaft!
Ein Schild verweist auf die Kirchenaustrittsstelle in Dortmund
epd-bild/Friedrich Stark

Wieder einmal löst die Nachricht von hohen Mitgliederverlusten der EKD für kurze Zeit bei den kirchlichen Leitungskräften Erschrecken und Betroffenheit aus. Die Zahlen bestätigen: es kommt noch schlimmer als erwartet. 2022 verlor die evangelische Kirche 380.000 Mitglieder. Warum? Es heißt, sie werde in Mithaftung genommen für die katholische Kirche, die wegen Fällen sexuellen Missbrauchs dauernd in den Schlagzeilen ist. Mag sein. Das Kirchenbild vieler hängt ab von den bad news, die ihnen die Medien über „die Kirche“ vermitteln. Wer ohnehin keinen Kontakt zur Kirche hat, wird sich nicht um Differenzierung bemühen. Es heißt weiter, bei steigenden Lebenshaltungskosten müssten viele Deutsche überlegen, was sie einsparen können. Das stimmt nur begrenzt. Offenkundig ist Geld da für Dinge, die man für unverzichtbar hält, etwa Urlaubsreisen oder neue Autos. Kirche hingegen erscheint verzichtbar. Wer austritt, muss keine Kirchensteuer zahlen.

Warum kommen Menschen, die einmal getauft wurden, zu dem Schluss: Das brauche ich nicht? Ich frage als Pfarrer, der 33 Jahre in verschiedenen Bereichen der evangelischen Kirche gearbeitet hat. Ich frage, weil ich mich als überzeugter Protestant für sie verantwortlich weiß. Warum ist Kirche für viele belanglos oder stört nur? Der evangelischen Kirche ist es nicht gelungen, in der Öffentlichkeit ein unverwechselbares Profil zu vermitteln, das sie deutlich von der katholischen Kirche unterscheidbar macht. Alle Werbekampagnen, alles Bemühen, sich ein attraktives, modernes Image zu geben, um die Kirchendistanzierten zu erreichen, haben nichts gefruchtet. Man will den Menschen nahe sein, wie meine Landeskirche, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), gern beteuert. BILD-Zeitung und RTL wollen das auch. Was aber Kirche im Unterschied zu ihnen den Menschen zu vermitteln hat, darüber wird wenig Klarheit verbreitet. Selbst unter ihren engverbundenen, engagierten Mitgliedern sind wenige sich darüber klar. Sie können nicht persönlich und überzeugend von ihrem Glauben sprechen.

Kirche als Glaubensgemeinschaft

Ausgerechnet den Kirchen der Reformation fehlt‘s an mündigen Laien, die wissen, dass sie durch die Taufe auf Jesu Namen zu ihm gehören und Glieder des Gottesvolkes geworden sind. Lebendige Glieder, nicht Mitglieder, wie Vereine und Parteien sie haben. Man kann passives Mitglied in der Kartei eines Vereins sein, auch des Betriebssystems Kirche. Aber ein Glied der Kirche sein, ohne Lebensbezug zu einer Gemeinde, das geht nicht. Ich brauche die Gemeinde, mit der ich Gottesdienst feiere, weil ich nicht im Alleingang singen und beten, glauben und bekennen, kurz: christlich leben kann. Dazu gehören immer andere Christen, die mit mir auf dem Weg der Nachfolge Jesu sind.

Von Kirche als Glaubensgemeinschaft ist im Zusammenhang mit Kirchenaustritten selten die Rede. Alle schauen auf die Institution, die, eine deutsche Spezialität, als Körperschaft öffentlichen Rechts organisiert ist. Auf dieser Rechtsgrundlage beruht das Betriebssystem unserer „Volkskirchen“. Das funktioniert, solange es durch Gemeinden und staatliche Zuschüsse finanziert wird. Dabei erliegen kirchenleitende Personen und Gremien leicht einer perspektivischen Täuschung. Sie meinen, vorwiegend den weiteren Betrieb des Systems Kirche – mit Personal, Gebäuden, Sachausstattung – und dessen Finanzierung sicherstellen zu müssen.  Das ist auch nötig, in zweiter Linie. Doch zuerst kommt es auf die Menschen an, in der Kirche und außerhalb. Die Verwaltung betrachtet sie als Kunden und begreift sich als Dienstleisterin. In der Kirche führen solche betriebswirtschaftlichen Begriffe aber aufs Glatteis. Zuerst muss eine evangelische Kirche ihren Gliedern vermitteln, dass sie mehr als Mitglieder sind: jedes ist einzigartig begabt. Ihre Glieder sind Kirche, sie bilden Kirche und werden als Kirche identifizierbar, je mehr sie es wagen, als bekennende Christen hervorzutreten.

Verantwortung übernehmen

Seit der Studie „Wie stabil ist die Kirche?“ (1974) befragt die EKD ihre Mitglieder. Sie haben regelmäßig ein Resultat erbracht: die Mehrzahl sieht Pfarrer und Pfarrerinnen als die Repräsentanten der Kirche. Die meisten Befragten wünschen sich also, dass Kirche vor Ort ein Gesicht hat und ansprechbar ist in einer Person. Diese hat in Gemeinden oder Gemeindebezirken überschaubarer Größe Seelsorge zu üben, also einfach da zu sein für jeden Einzelnen, der Beistand und Hilfe braucht. Durch sie soll in Gottesdiensten die Gegenwart eines menschenfreundlichen Gottes spürbar werden. So kann Kirche sein, weltoffen, aber nicht weltförmig, den Menschen nah, ohne sich ihnen anzubiedern.

Schon im Theologiestudium wurde mir klar, dass jene Studie mir indirekt meine Aufgabe als Pfarrer zuschrieb. Ich bin zu Seelsorge, Verkündigung und Lehre berufen. Es liegt an mir, mich geistlich zu bilden, damit ich auch andere geistlich bilden und anregen kann, ihren Glauben zu üben. Kirche im Vollsinn einer Glaubensgemeinschaft kann nur sein, wo der Glaube als kommunikative Praxis gelebt wird. Denn keiner glaubt für sich allein. Die Vorstellung von einem Christsein ohne Kirche halte ich für naiv. In Wirklichkeit ist es einfach, Distanz zur Kirche zu halten. Für sie Verantwortung zu übernehmen kostet mehr.

Meiner Kirche, der ich mich immer noch verbunden fühle, fehlt es an missionarischer Leidenschaft. Es dürfte ihr eigentlich nicht egal sein, wer dazugehört und wer nicht. Sie müsste um jeden Einzelnen kämpfen. Dafür braucht sie Menschen, die lernen, immer neu mit Jesus anzufangen, und sich nicht schämen, offen ihren christlichen Glauben zu bekennen.

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Foto: Privat

Michael Heymel

Dr. habil. Michael Heymel ist habilitierter praktischer Theologe und Pfarrer im Ruhestand in Limburg/Lahn. Er arbeitet als freier Autor und Dozent.


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