Im Schmerz

Perspektiven einer Geschichte

Nach Papa stirbt, Mama auch 2021 hat Maren Wurster ein neues Buch vorgelegt, das sich erneut dem Eltern-Kind-Verhältnis widmet – und dessen Scheitern. Für dieses Buch des Schmerzes und der Einsamkeit wählt sie eine wirkungsvolle Form: Sie erzählt die Geschichte einer Mutter und ihres Sohnes je aus eigener Perspektive – und jedes Mal beginnt die Geschichte von vorn, das heißt: Das Buch ist in der Mitte zu Ende und fängt von der anderen Seite auf den Kopf gestellt neu an. Der Beginn ist von beiden Seiten her möglich und den Lesenden selbst überlassen. Während die Geschichte der Mutter Lena in dritter Person erzählt wird, erzählt Konrad, ihr Sohn, Jahre später seine Geschichte aus der Ich-Perspektive. Dies irritiert ähnlich wie etwa der finale Ort beider Geschichten, in dem die Mutter vorfindet, was der Sohn erst Jahre später gestaltet – aber derartige scheinbare Ungereimtheiten verblassen unter der Kraft und Intention des Ganzen, das Maren Wurster in jeder Perspektive sprachlich und stilistisch wirkungsvoll und damit gleichermaßen einfühlsam wie verstörend zur Sprache bringt: einerseits die Kehrseite der Medaille des Glücks der Mutterschaft, das Blendwerk patriarchaler Bilder und Versprechen und die damit einhergehende Vereinsamung und Stigmatisierung überforderter, allein auf sich gestellter Mütter, andererseits die Einsam- und Haltlosigkeit zurückgelassener Kinder, die alles haben, und denen doch das Wesentliche fehlt.

Ich habe das Buch mit der Mutter-Perspektive begonnen: eine junge Frau, gepeinigt von den Schmerzen einer Mastitis, von Scham und Ekel vor dem eigenen, rebellierenden Körper, lebt versteckt in einem Ferienhaus und versucht verzweifelt, die Stimme ihres Babys aus dem Kopf zu bekommen. Das Baby, das sie beiläufig in ihr Leben gelassen hatte, das Baby mit dem ernsten Blick, das nie schläft und immer Hunger hat – aber keinen Vater, der zwar da ist, aber keine Zeit hat, was er gleich zu Beginn der Schwangerschaft geklärt hat. Dieses Baby hat sie verlassen. Zurückgelassen mit einigen Flaschen abgepumpter Muttermilch beim Vater. Ihr Kopf ist voller Erinnerungen, die diskrepanter kaum sein können: das ganz auf sich selbst, den Erfolg und die Entspannung abgestimmte, cool getimte Leben mit Robert in einer Welt in Hotelzimmern und Lounges auf der einen Seite, die sie ganzkörperlich überkommende Verzweiflung und Entfremdung von ihrer Mutterschaft auf der anderen. Am Ende dieses Teils steht ein Trost, der beide Teile des Buches bindet: ein Kunstwerk: zwei sich an der Spitze berührende Pyramiden, mit der Motorsäge aus einem Stück geschnitten – „aus einer strengen Konstruktion erwuchs etwas Zartes, Organisches. Das zu sehen und zu verstehen, tröstete Lena.“

Diese Doppel-Pyramiden-Skulptur wird am Ende der Geschichte Konrads dessen eigenes künstlerisches Werk sein. Wir lernen ihn als 15-Jährigen in einem Internat kennen, zurückgezogen, mit Hang zu großem Zorn, parallel mit für sein Alter bemerkenswerter Reflexion und Klarheit: „Ich war nicht Roberts Sohn. Nicht Quellspring-Schüler. Nicht Kaspars Freund. Nicht Kind ohne Mutter. Sondern Bildhauer.“ Diese Fährte wird gleich zu Anfang aufklärend gelegt, verbunden mit der Feststellung: „Meine ersten Erinnerungen haben alle mit Una zu tun.“ Una ist das Kindermädchen, das Robert angestellt hat, um seinen Sohn großzuziehen. Sie ist die einzige Person, zu der er ein Urvertrauen entwickelt – aber sie ist nicht seine Mutter. Und sein Vater bleibt als absichernder Versorger konsequent in Distanz.

Maren Wurster wirft einen mutigen Blick auf eine menschliche Beziehungsdynamik, die voller Mangel scheint. Sie wertet nicht, sie beschreibt ungeschminkt: Auf der einen Seite das, was der Mangel mit allen macht, auf der anderen Seite, was daraus entsteht – ein Kunstwerk, gestaltet von einem Systemsprenger. Die Polarität von zerstörerischer Kraft und Mangel und kreativem Prozess und Transformation.

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