Spree-Musicus

Berlins berühmter Kantor

Wer zu „Crüger 1622. Ein Berliner Kantor schreibt Musikgeschichte“ greift, hat nicht nur ein Buch über den Musiker Johann Crüger (1598 – 1662) in den Händen, sondern wird auf eine Reise mitgenommen: eine Reise durch Berlin, ein Musikerleben im Dreißigjährigen Krieg, den Schulstaub eines Gymnasiums, durch Stamm- und Stimmbücher, Handschriften und Freundschaften und zuletzt durchs Kino. Das gelingt dank eines Konzepts aus fünfzehn Fachaufsätzen und einer großen, ansprechenden Auswahl an Bildern, Notenbeispielen und Karten.

Kenner der Gattung Kirchenlied denken bei Crüger vermutlich an Paul Gerhardt, dessen Texte zur poetischen DNA der protestantischen Kirchen in Deutschland gehören. Denkt man aber an die Wirkung der Lieder wie „Wie soll ich dich empfangen“ oder „Auf, auf mein Herz mit Freuden“, muss man sagen: Es sind die Melodien, die im Herzen gespeichert werden – wie Bischof Christian Stäblein im Geleitwort bemerkt – und mit ihnen der Text.

1622, vor genau vierhundert Jahren, wurde Crüger in das höchste musikalische Amt der Stadt berufen: Als Kantor an der Hauptpfarrkirche St. Nikolai und Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster war er dort bis 1662 tätig. Anlässlich dieses Jubiläums möchten die Herausgeber „einen Markstein der Crüger-Forschung“ setzen, der sowohl das Interesse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch der breiten Öffentlichkeit weckt.

Auffallend schön ist die Sensibilität, mit der hier unter verschiedenen Aspekten (liturgie- und musikwissenschaftlich, stadt-, bildungs- und wirkungsgeschichtlich, editorisch, hymnologisch) ein scheinbares Nischenthema in einen kulturwissenschaftlichen Horizont gestellt wird. Wer sich mit Albrecht Henkys auf den Weg durch „40 Jahre Berliner Leben“ macht, wird in Zukunft vermutlich mit anderen Augen durchs Nikolaiviertel gehen. Susanne Knackmuß erörtert unter anderem eine hier erstmals gezeigte Musikhandschrift. Weitere Beiträge lassen Schüler und Kollegen zu Wort kommen und beleuchten Crügers Wirken als Komponist, Pädagoge, Musiktheoretiker und Kantor. Sehr schön: Susanne Weichenhan über Crüger und die Pfarrerschaft und darüber, was Anagramme in Gedichten über kollegiale Verhältnisse aussagen können. Crüger galt als ruhiger, ausgleichender Charakter in Zeiten des Kriegs. So lassen sich nicht nur mit Blick auf das neue EKD-Gesangbuch vor allem die Beiträge von Wolfgang Miersemann, Hans-Otto Korth und Bernhardt Schmidt mit großem Gewinn lesen: Sie nehmen die Leserschaft mit in die Entstehungsprozesse der von Crüger verantworteten Gesangbücher. Im Detail schärfen sie den Blick für die Wandelbarkeit eines Gesangbuchkonzepts und für die Arbeitsökonomie zwischen Auftraggebern, Herausgebern, Musikern, Dichtern und Druckern. Sie zeigen, wie beides gelingen kann: konfessionelle Weite bei gleichzeitiger Treue zum ursprünglichen Text sowie „Vollkömmlichkeit“ durch alte und hochmoderne Gesänge bei gleichzeitig kritischer Auswahl. Konrad Klek rundet den Band ab, indem er der Frage nachgeht, ob satztechnisch und melodisch überall Crüger drinsteckt, wo Crüger draufsteht, und wo Crüger heute vielleicht doch lieber inkognito bleiben würde.

Grundkenntnisse und Vertrautheit mit wissenschaftlicher Sprache sind Voraussetzung für die Lektüre. Vermutlich ist es mehr die interessierte als die breite Öffentlichkeit, die der Band erreicht. Jedoch für haupt- und nebenberufliche Fachleute, Studierende sowie interessierte Laien ist er eine wirkliche Empfehlung, weil er Neues (inklusive Forschungsdesideratem) enthält und neue Blicke auf Vertrautes ermöglicht. Aufgrund der schönen Gestaltung eignet er sich zudem gut als Geschenk.

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