Bereits 1983 nahm Friedrich Schorlemmer das Bibelwort Micha 4, 3 wörtlich: Am 24. September schmiedete er mit seiner Friedensgruppe auf dem Wittenberger Lutherhof ein Schwert zu einer Pflugschar um. Vorgelesen wurden dabei Texte von Wolf Biermann, Sergej Michalkow und Jürgen Rennert. In seinem neuen Buch erzählt Friedrich Schorlemmer von einem Land, „das in den Westen gegangen ist“. Seine damaligen Einsichten und Überzeugungen sind immer noch und teils erschreckend wieder aktuell. Literatur ist dabei nicht nur Klammer zwischen den Zeiten, sondern Netz und Grund. Dadurch wird eine sehr persönliche Annäherung an Thematik und Autor möglich.
Der streitbare Pfarrer in der Lutherstadt Wittenberg hat bis heute nicht nachgelassen, mit deutlichen Worten Menschen zu ermutigen, nicht aufzugeben. Dafür wurde er 1993 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt. So geht es, wie der Titel des Buches erwarten lässt, zunächst um das existentielle Lesen in der DDR. Auch wichtige Bücher wurden da trotz allgegenwärtiger Zensur gedruckt, waren aber im Buchhandel meist entweder „noch nicht da“ oder „schon durch“.
Bücher von Schriftstellern, die die DDR verlassen hatten, doch auch Texte von „unliebsamen“ ddr-Schriftstellern kamen „auf Taubenfüßen“ aus dem Westen ins Land, wurden an den Augen der Stasi vorbei abgeschrieben oder kopiert und gierig als Überlebensmittel aufgesogen. Damals hatten die Machthaber ihr Wort gegenüber friedlichen Idealen längst gebrochen, aber alle Machtworte konnten der Macht von Worten wie „Keine Gewalt!“ nicht standhalten. Fast 500 Jahre nach Luther bereiteten Schriftsteller den Boden für die friedliche Überwindung der Unfreiheit des Wortes.
Mit Schorlemmer schreibt ein aktiver Kenner der damaligen Literaturszene einschließlich Literatur aus Osteuropa und der ganzen Welt. „Wenn ich mich frage, was von der DDR bleibt, dann sage ich spontan: aufgeschlagene Bücher (.) Literatur war Brot.“ Spannend lesen sich die Abenteuer um Literatur und Leben in der ddr und in der Umbruchszeit, da Schorlemmer jede Nostalgie fern ist. Im längsten Kapitel „Wortmacht und Machtworte“ setzt sich Schorlemmer auch auf sehr differenzierte Weise mit Hermann Kant, dem einstigen Präsidenten des Schriftstellerverbandes der DDR, auseinander. Sensibel würdigt er später Christa Wolf als eine Suchende, denn Fehlbarkeit mache den Menschen aus.
Wer dieses Buch vor allem als Bericht politischer (Lese-) Ereignisse in die Hand nimmt, ist also nicht falsch beraten, hat aber eine weitere Intention noch nicht im Blick: die im Untertitel gelobte Leselust. Bereits das erste Kapitel bevölkern literarische Gestalten, die anziehen oder abstoßen - aus der Bibel, der griechischen Tragödie und Grimms Märchen.
Was Lesen mit uns macht - das sind wundersame Welt- und Zeitreisen. Fiktive Doppelt- und Dreifachidentitäten helfen beim Abarbeiten eigener Ängste. Friedrich Schorlemmer stellt sein eigenes Leben in den Kontext der Weltliteratur. Wie er mit Worten umgeht, so gehen auch die Worte mit ihm um. Literarische Texte verknüpfen sich eng mit Stationen seiner Biographie. Der Autor Schorlemmer legt somit sein Leben wie ein offenes Buch vor, das auch eigene Irrtümer bekennt.
Bereits in seiner Arbeit zum zweiten Theologischen Examen thematisierte Friedrich Schorlemmer „Die moderne Lyrik und die Sprache der Verkündigung“. In den Titeln seiner Aufsätze und Bücher, die stets „gegen das Lähmungsgift der Resignation“ anschreiben, geht es bis heute immer wieder um Worte und Wort-Welten, Gespräche, Verständigung, Bücher, bleibende Texte.
Das vorliegende Buch zeugt nicht nur von literarischer Sachkenntnis, sondern auch von der Freude an der eigenen Belesenheit und Beredsamkeit. Eigene Kapitel widmet er - neben Christa Wolf - Heinrich Böll, Hermann Hesse, Erich Loest und Martin Buber. Er selbst findet, wie gewohnt, sehr klare und deutliche, bisweilen prophetische Worte. Sie können desillusionieren, wenn es um die Gegenwart geht. Dennoch ist sein Ton nicht appellativ, sondern reflektierend, und durch zahlreiche Erlebnisse und konkrete Literaturerfahrungen so erzählt, dass es Freude macht, in die literarische Welt einzutauchen. Wenn ich an diesem Buch etwas vermisse, dann höchstens ein Namensregister aller hier erwähnten Persönlichkeiten, denen Friedrich Schorlemmer lesend oder leibhaftig begegnet ist.
Vor allem bricht der Autor eine Lanze für den Genuss der Sinnlichkeit des Lesens in einer Zeit flüchtiger Kommunikation. Es ist „nötig, weniges Gutes zu lesen. Dazu gehört auch, ein sinnliches Verhältnis zum Buch zu entwickeln: wie es sich anfassen, anschauen, durchblättern, zuklappen lässt. Ein sinnliches Verhältnis zum Buch kommt aus einem sinnlichen Verhältnis zum Wort.“ So gelingt ihm eine Hommage an die deutschen Buchhandlungen als einzigartige Orte der Kultur. Und gerne stimmt man zu: „. was bleibt, sind aufgeschlagene Bücher.“
Beate Bahnert