Gefahr der Unduldsamkeit

Die „Öffentliche Theologie“ der EKD ist problematisch
Der rheinische Präses Manfred Rekowski (vierter von rechts) am 1. September 2014 bei einer Andacht vor dem Fliegerhorst Büchel/Eifel.
Der rheinische Präses Manfred Rekowski (vierter von rechts) am 1. September 2014 bei einer Andacht vor dem Fliegerhorst Büchel/Eifel.
Zu einer Politisierung des Kirchenverständnisses führt die „Öffentliche Theologie“, die der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm ebenso wie sein Vorgänger Wolfgang Huber vertritt. Diese These erläutert Johannes Fischer, der an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich Ethik lehrte. Und er warnt vor der Vorstellung, auf ethische Fragen könnten Theologie und Kirche nur eine eindeutige Antwort geben.

In einem Gastbeitrag für die Zeitschrift Pastoraltheologie hat sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble aus Anlass des Reformationsjubiläums mit dem Zustand des Protestantismus in Deutschland auseinandergesetzt. Er beobachtet eine einseitige Politisierung, die nicht selten mit Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden einhergeht. Vor allem aber sei über dem politischen Engagement der „spirituelle Kern“ abhandengekommen, ohne den „die bestgemeinte politische Programmatik schal und ihr selbstgestecktes Ziel … unerreicht“ bleibe. Es „entsteht der Eindruck, als gehe es in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube“. Schäuble bestreitet nicht, dass Religion politisch sein muss, doch müsse sie, „um politisch zu sein, erst einmal Religion sein“.

Auch andere artikulieren den Eindruck, dass die evangelische Kirche an spiritueller Auszehrung leidet und ihre leitenden Instanzen und Repräsentanten durch Präsenz in den politischen und ethischen Debatten den Bedeutungsverlust kompensieren wollen, den die Kirche durch Mitgliederschwund und abnehmende Beteiligung an ihren religiösen Angeboten erleidet. Weniger im Fokus der Aufmerksamkeit steht dagegen, was zum Verständnis dieser Entwicklung nicht unwichtig ist. Die Ethisierung und Politisierung des Verständnisses davon, was Kirche ist und Kirche ausmacht, ist nämlich entscheidend durch theologische Überlegungen angestoßen, die programmatisch im Konzept einer Öffentlichen Theologie ausformuliert wurden. Darin wird der Kirche eine dezidiert öffentliche Rolle in ethischen und politischen Fragen zuerkannt.

Aber was ist Öffentliche Theologie? Und in welchem Verhältnis steht sie zur Kirche? Von zentraler Bedeutung ist für viele ihrer Vertreter das Denken des von den Nazis ermordeten Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). Dieser setzte sich in seiner Ethik kritisch mit dem „Denken in zwei Räumen“ auseinander. Dieses trennt den Raum der „Offenbarungswirklichkeit“, in der es der Christ mit Gott und Christus zu tun hat, von dem Raum der Welt. Dazu schreibt Bonhoeffer: „Die Wirklichkeit Gottes erschliesst sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus.“ Kirche muss daher immer Kirche für die Welt sein und darf sich nicht auf sich selbst zurückziehen.

Das Sich-Einlassen auf die Welt impliziert unter den Bedingungen demokratisch verfasster Gesellschaften ein bewusstes Sich-Einlassen auf die Öffentlichkeit als den Raum der Willensbildungsprozesse. Als der jetzige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm vor fünf Jahren an der Universität Bamberg seine Abschiedsvorlesung hielt, sagte er, dass „der Raum der Öffentlichkeit … allein schon deswegen theologisch relevant“ sei, „weil er für die Weltgestaltung von zentraler Bedeutung ist, weil sich in ihm entscheidet, ob Armut beseitigt, Gewalt überwunden und die Zerstörung der Natur gestoppt wird“. Wenn die Kirche eine Kirche für die Welt sein will, muss sie sich also auf die öffentlichen Debatten in Politik und Gesellschaft einlassen. Und dazu muss sie eine „Zweisprachigkeit“ entwickeln, die theologische Gesichtspunkte in die säkulare Sprache öffentlicher Debatten übersetzt und plausibel macht. In Bedford-Strohms Worten: „Kirchen, die sich auf diese Perspektive einlassen, müssen öffentliche Kirchen in der Zivilgesellschaft sein und brauchen als Basis und kritisches Gegenüber eine Öffentliche Theologie, die sie immer wieder herausfordert und ihnen dadurch theologische Orientierung gibt.“

Nach diesem Verständnis soll die Kirche also nicht eine „Kontrastgesellschaft“ in Abgrenzung von der sie umgebenden Welt sein. Das widerspräche dem Bonhoefferschen Gedanken, dass der Christ mitten in die Welt hineingestellt ist. Die Kirche soll sich ihr aber auch nicht gleichgestalten. Sie hat vielmehr eine weltkritische ethische Dimension in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Das heißt, für Bedford-Strohm hat die Kirche eine „normative kritische Wächterfunktion gegenüber der Gesellschaft, die auf ethische Orientierung angewiesen ist“. Was aber das Verhältnis von öffentlicher Kirche und Öffentlicher Theologie betrifft, verankert die Kirche „was Öffentliche Theologie erarbeitet, nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen der Menschen, ja durch die Praxis der Frömmigkeit in den Tiefen der Seele“. So begriffen ist die Kirche eine Art Multiplikator der Öffentlichen Theologie.

Man muss sich diesen theologischen Begründungszusammenhang vergegenwärtigen, um das Engagement zu verstehen, das die EKD in die öffentliche Debatte über politische und ethische Fragen einbringt. Dabei lässt sich das Konzept der Öffentlichen Theologie angemessen und fair nur würdigen, wenn man sich dessen Ursprünge in Erinnerung ruft, auf die der Name Dietrich Bonhoeffer verweist. Wolfgang Schäuble hält dem Protestantismus, der sich heute so politisch gibt, vor, dass in der Nazizeit evangelischer Protest fast ausgeblieben sei. Aber genau diese politische Blindheit hatte Bonhoeffer bei seiner Kritik am Denken in zwei Räumen vor Augen. Und genau das verhalf der EKD nach 1945 zu der selbstkritischen Einsicht, dass die evangelischen Landeskirchen auf den fortschreitenden Bedeutungsverlust seit der Industrialisierung und vollends seit Ende des Ersten Weltkriegs mit einer Zentrierung auf sich selbst reagiert hatten, dass sie durch volksmissionarische Anstrengungen den Bestand sichern wollten und darüber ihre Mitverantwortung für die Gesellschaft aus dem Auge verloren. Diese Einsicht führte nach dem Ende der Nazizeit zur Gründung der Evangelischen Akademien. Diese wollten mit ihrer berufsgruppenbezogenen Arbeit Christinnen und Christen im Hinblick darauf reflexions- und sprachfähig machen, was es heißt, als Christ Gewerkschafter, Unternehmer, Lehrer, Soldat, Jurist oder Naturwissenschaftler zu sein. Und es führte zum Gedanken eines öffentlichen Auftrags der Kirche, der sich in den verschiedenen Kammern der EKD niedergeschlagen hat.

Grenzen und Defizite

In dieser Tradition steht das Konzept der Öffentlichen Theologie. Und so sind bedeutende theologische Beiträge zur Ethik der Politik, des Rechtes und des Friedens entstanden.

Freilich muss man auch Grenzen und Defizite dieses Konzepts sehen. Lässt sich aus der Feststellung, dass die Kirche eine „Kirche für die Welt“ ist, die Schlussfolgerung ableiten, dass auch die Theologie ihren eigentlichen Adressaten in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hat, der sie ethische Orientierung vermittelt? Und lässt sich dafür Bonhoeffer in den Zeugenstand rufen?

Seine Theologie richtete sich ja nicht an die Welt oder die gesellschaftliche Öffentlichkeit, sondern an die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden. Diese soll in Frontstellung gegen das Denken in zwei Räumen über die Wirklichkeit aufgeklärt werden, die Inhalt ihres Glaubens ist. Dass die Kirche eine Kirche für die Welt ist, ist ein Satz dieser kirchen- und glaubensbezogenen Theologie. Aber man wird ihr nicht gerecht, wenn man ihr nur diesen Satz entnimmt, um sie alsdann hinter sich zu lassen und auf diesen Satz das Konzept einer Öffentlichen Theologie zu gründen, die dezidiert weltbezogen ist und sich an die gesellschaftliche Öffentlichkeit wendet. Die Pointe von Bonhoeffers Kritik des Denkens in zwei Räumen zielt ja nicht darauf, die Welt zum Bezugspunkt und Adressaten von Kirche und Theologie zu machen. Bezugspunkt ist vielmehr die Wirklichkeit des menschgewordenen Gottes, in welche die Welt hineingenommen ist. Und diese Wirklichkeit muss die Theologie denkend durchdringen. Dieser Aufgabe gilt Bonhoeffers ganze theologische Leidenschaft. Sie entzündet sich eben nicht daran, dass die Welt der ethischen Orientierung bedarf, sondern dass Glaube und Kirche der geistlichen Orientierung bedürfen. Gewiss hat dies auch ethische und politische Implikationen. Aber sie sind nicht der letzte und eigentliche Zweck des theologischen Nachdenkens.

Gute und artikulationskräftige Theologie ist immer das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart. Und ob man sich dabei Bonhoeffers Theologie in ihrem Denkstil und sprachlichen Duktus heute noch umstandslos zu eigen machen kann, muss jede Theologin, jeder Theologe für sich selbst herausfinden. Aber alle, die sich mit Theologie befassen, kommen nicht um die Frage herum: Ist die theologische Aufgabe in ihrem Kern eine Ethik für die Welt oder die geistliche Orientierung derer, die sich zur Kirche halten oder religiös auf der Suche sind?

Unbestreitbar bezieht sich auch die öffentliche Kirche und Theologie auf den christlichen Glauben und die Spiritualität christlicher Liebe. Sie tut es, wenn sie die ethische Position, für die sie öffentlich eintritt, verständlich macht und begründet. Es geht dann um Begründungen der folgenden Art: Weil der christliche Glaube und die christliche Liebe dem Schwachen zugewandt sind, orientieren sich die Kirchen in ihrem öffentlichen Reden und Handeln an der ethischen Leitlinie der Option für die Schwachen.

Christlicher Glaube und christliche Liebe werden hier als fraglos gegeben vorausgesetzt, um daraus die Legitimation kirchlichen Redens und Handelns abzuleiten. Aber sind sie wirklich fraglos gegeben? Anders als moralische Normen schreibt das christliche Liebesgebot ja nicht nur ein Handeln vor. Vielmehr geht es auch um dessen Grund und Motiv. Aber dass ein Mensch durch die Not eines anderen so berührt wird, dass sie zum Grund und Motiv seines Handelns wird, ist etwas, was ihm widerfährt. Das kann er nicht selber machen. Die Bibel schreibt die Liebe daher dem Wirken von Gottes Geist zu.

Und wie wird diese geistliche Dimension im Leben eines Menschen gegenwärtig? Wie gewinnt sie sprachliche Artikulations- und gedankliche Ausdruckskraft? Welche Rolle spielen dabei gottesdienstliche Vollzüge und die Frömmigkeitspraxis? Sind es nicht solche Fragen, durch die theologisches Nachdenken auf den Plan gerufen wird?

Gerade diese Fragen liegen außerhalb des Interesses Öffentlicher Theologie. Ihr geht es um ethische Orientierung für die ganze Gesellschaft. Und diese muss unabhängig sein von Voraussetzungen eines bestimmten religiösen Glaubens. Und im Sinn der „Zweisprachigkeit“ liegt es dann zum Beispiel nahe, statt der Liebe die Goldene Regel zum ethischen Leitgesichtspunkt zu machen, insofern diese auch der säkularen Vernunft etwas sagt.

Man muss nicht zuletzt auch die Zwänge sehen, unter die sich eine Kirche setzt, die ihr kirchliches Profil auf ethischem Gebiet ausweisen will. Davon zeugen nicht nur die vielen kirchlichen Äußerungen und Stellungnahmen zu den unterschiedlichen ethischen Themen. Vor allem zeigt sich dies in der Vorstellung, in ethisch kontroversen Fragen müsse es genau einen, „den“ christlichen Standpunkt geben, den die Kirche in der öffentlichen Debatte zur Geltung bringen muss. Aber wenn in derartigen Fragen unter Christinnen und Christen mit guten Gründen ein ebenso großes Spektrum unterschiedlicher Auffassungen vertreten werden kann wie in der Gesellschaft, wie kann die Kirche dann der Gesellschaft ethische Orientierung vermitteln?

In diesem Zwang zur Eindeutigkeit kann, wie Wolfgang Schäuble beobachtet, eine Quelle von Unduldsamkeit liegen. Und so manche kirchlich-ethische Debatte bleibt hier in unguter Erinnerung.

Johannes Fischer

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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