Großer Wurf

Matthäus-Passion mit Bernius
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Das Halten des rechten Maßes ist es, das einen kaum loskommen lässt von dieser Aufnahme.

Johann Wolfgang von Goethe hatte nichts gehört, aber war trotzdem beeindruckt: „Es ist mir, als wenn ich von ferne das Meer brausen hörte“, schrieb der Dichterfürst an Carl-Friedrich Zelter, als der ihm im März 1829 von der Berliner Wiederaufführung der Matthäus-Passion unter der Leitung Felix Mendelssohns berichtete. Viele Superlative sind seitdem, seit der Bachrenaissance im 19. Jahrhundert, bemüht worden, um das bedeutende doppelchörige Passionswerk des berühmten Thomaskantors zu beschreiben.

Umso merkwürdiger ist, dass sich über keine der mutmaßlich vier Leipziger Aufführungen Bachs zwischen 1727 und 1742 auch nur ein winzige zeitgenössische Notiz erhalten hat. Die Menschen dieser Zeit bleiben ein Rätsel!

Seit ihrer Wiederentdeckung durch Mendelssohn aber ist die Matthäus-Passion in aller Munde, und seit es Tonträger gibt, haben es schon viele unternommen, das Werk für die Ewigkeit festzuhalten. Nun ist auch eine Aufnahme unter Leitung von Frieder Bernius erschienen, und ihm ist fraglos ein großer Wurf gelungen: Bernius gebraucht die herausragende Qualität seines weltberühmten Kammerchors und seines Orchesters nicht dafür, um durch extreme Tempi und Forcierungen aufzutrumpfen, sondern er hält in allem Maß. Dieses Halten des rechten Maßes ist es, das einen kaum loskommen lässt von dieser Aufnahme. Ein Geist kreativer Demut waltet gegenüber dem Werk, aber unter der Oberfläche brodelt es und pulst milder Fanatismus. Nur ein Beispiel: Bernius widersteht der Versuchung, aus jedem der zwölf Choräle ein vordergründiges emotionales Drama zu inszenieren, wie es immer wieder zu hören ist, einen Chor, der alles kann, hätte er ja, sondern setzt auf ein gleichmäßiges, natürliches Zeitmaß, auf subtile Pausen und unmerklich gelängte Silben. Eine Musikalität, die untergründig wirkt, aber darin über alle Maße beeindrucken kann, oder anders gesagt: Hier ist weniger wirklich mehr. Entspannt und spannungsreich zugleich entfaltet sich die große Passion, in der Bernius & Co. die perfekte Einheit einer an der Romantik geschulten Legatokultur mit den Anforderungen barocker Rhetorik zelebrieren. Zum großartigen Erlebnis tragen natürlich hervorragende Vokalsolistinnen und -solisten bei – pars pro toto sei nur Tenor Tilman Lichdi genannt, ohne Frage ein neuer Stern am Evangelistenhimmel.

Mit dieser Aufnahme besteht für diejenigen, die in ihren CD-Regalen und Plattenschränken schon eine oder gar einige Aufnahmen der Matthäus-Passion stehen haben, die auch alle gut oder sogar sehr gut seien mögen, die Chance, eine Aufnahme hinzuzugewinnen, die im besten Sinne eine Referenzaufnahme ist beziehungsweise werden könnte.

Johann Sebastian Bach: Matthäus-Passion. Kammerchor Stuttgart Barockorchester Stuttgart, Carus 83.472

Reinhard Mawick

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