Nein, es ist keine Monographie über Paul Gerhardt, auch wenn das Buch den Titel trägt: Weg hast du allerwegen – die Anfangsworte der vierten Strophe des berühmten Liedes „Befiehl du deine Wege“. Aber die Autobiografie von Friedrich Winter, der als Pfarrer, Hochschullehrer, Propst und zuletzt als Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (eku) tätig war, hat das berühmte Glaubenslied Gerhardts gleichsam als unsichtbares Gerüst.
Es ist im Detail nicht nur interessant, sondern auch immer wieder sehr berührend, wie der 88-Jährige sein Leben und Wirken schildert: 1927 in Soest als sechstes Kind einer Pfarrersfamilie geboren, wurde Friedrich Winter als Siebzehnjähriger noch zur Wehrmacht eingezogen und musste an die Ostfront. Im Februar 1945 erhielt er sogar das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse. Im Buch kommentiert er das so: „Warum, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte doch bisher noch keinen Schuss abgegeben.“ Kurz darauf wird er verwundet und hat das Glück, das Kriegsende in Schleswig-Holstein zu erleben. Winter schreibt einen angenehmen, einfachen Berichtsstil, der aber immer wieder zur eindrücklichen Verdichtungen findet, die den Leser zum Nachdenken, zum mehrfach Lesen und Bedenken einiger Passagen bringen. Selbst wenn er über schwere und leidvolle Erfahrungen schreibt, sind seine Sätze ohne jedes Pathos formuliert. Dennoch erschüttert es, wenn er von seinem älteren Bruder Eberhard erzählt, der bereits 1939 eingezogen wurde, lange im besetzten Norwegen stationiert war, um 1943 dann doch an die Ostfront zu kommen und dort nach wenigen Monaten zu fallen. Winter: „Sein Grab ist nicht bekannt. Er starb im Bewusstsein, er müsse für Deutschland seine Pflicht als Soldat tun. Sein Tod traf meine Eltern zutiefst. Vater ergraute innerhalb weniger Wochen.“
1947 geht Winter, der nach der Kriegsgefangenschaft zunächst wieder in seiner Geburtsstadt Soest gestrandet war, zum Theologiestudium nach Greifswald, auch um in der Nähe seiner Eltern in Vorpommern zu sein.
Später erlebt der junge promovierte Studentenpfarrer die Nachkriegszeit und die angespannte Lage in der ddr – und findet Mitte der Fünfzigerjahre die Frau, mit der er bis heute sein Leben teilt. Nach seiner Tätigkeit als Hochschullehrer am Sprachenkonvikt nimmt Friedrich Winter als Propst in Ost-Berlin brisante seelsorgerliche Aufgaben wahr und hält die Verbindung zur Kirche in West-Berlin. Seine Schilderungen lassen die Besonderheit des kirchlichen Lebens und Wirkens in der ddr lebendig werden – in dieser Hinsicht ist das Buch wirklich eine Fundgrube. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung gehörte Winter zu denen, die an wichtiger Stelle die kirchliche Annäherung und Einheit zwischen Ost und West managten.
Ganz im Sinne Paul Gerhardts, dessen Worte diesem reichhaltigen Buch als Titel dienen, dürften Winters Schlusssätze sein, die seine erfüllten, aber auch mühseliger werdenden Jahre als Ruheständler charakterisieren: „ … die Hoffnung auf eine große anderer Welt ohne Tod, voller Christusgnade und -freude dürfen unser Leben als alte, vergängliche und schwache Menschen bestimmen. Das ist unser Trost im Leben und im Sterben.“
Friedrich Winter: Weg hast Du allerwegen. Wichern-Verlag, Berlin 2015,320 Seiten, Euro 19,95.
Reinhard Mawick