Anspruchsvoll

Über das Leiden an der Unruhe
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Die Unruhe ist kein Phänomen, dem man mit privater Work-Life-Balance beikommen kann.

Oft wird sie beklagt, die Hektik unserer Zeit, und gern auch auf Kanzeln als Phänomen der Moderne angeprangert. Um sich gegen allgegenwärtigen Stress und drohenden Burnout zu wehren, stehen Entspannungsübungen hoch im Kurs. Zugleich sehen sich jedes Unternehmen und auch die Kirche unentwegt genötigt, neue Wege zu gehen, sich zu verändern und zu reformieren, denn Stillstand, also Ruhe, wäre schändlich. Das Leiden an der Unruhe und die Unmöglichkeit, ihr zu entkommen, definiert der Kieler Philosoph Ralf Konersmann als die "Passion" des westlichen Kulturkreises, einen Daseinsmodus, dem er in seinem Buch "Die Unruhe der Welt" auf den Grund geht. Er will das Phänomen der Unruhe verstehen, indem er ihren Spuren in der Ideengeschichte nachgeht.

Den immer noch nachwirkenden Ursprung westlicher Unrast findet er in den Urgeschichten der Bibel: Wird hier doch die Ruhe des Paradieses als ein verlorenes Ideal dargestellt, das den Menschen nach der Vertreibung nur noch als Sehnsuchtsbild vor Augen stehen kann.

Mehr noch interessiert sich Konersmann für die Geschichte von Kain und Abel, die er überzeugend als den Ursprungsmythos der von Gott verhängten menschlichen Unruhe deutet. Der kainitische Mensch, der sich von Gott weg ins Ungewisse entfernt, ist für ihn der metaphysisch obdachlose Mensch, dem gar nichts anderes übrigbleibt, als sich ein eigenes Dach zu schaffen, das heißt, Kultur zu entwickeln.

Unruhe und Kultur gehören darum in unserem Kulturkreis von jeher zusammen. Nur am Rande streift Konersmann die religiösen Lösungswege aus dem Dilemma der Unruhe, das theologisch als Schuldverhaftung gedeutet wird. Er beobachtet vielmehr, wie der biblische Fluch im Laufe der Kulturgeschichte zu einer positiven Kraft und verlockenden Verheißung umgedeutet wurde. Vom frühen Empirismus Francis Bacons über Schiller und Hegel verfolgt er die Argumentationslinien, die mit der Unruhe die Kraft zur Erkenntnis verbanden und damit die Hoffnung auf eine letztendliche Rückkehr in einen Zustand erfüllter Vollkommenheit. Erst Karl Marx habe mit dem dialektischen Materialismus das Prinzip von Entwicklung und Veränderung absolut gesetzt und damit die Diagnose für das Selbstverständnis der Moderne geliefert, in der der "Wandel" zum Selbstzweck geworden ist. Die entfesselte Unruhe habe im 20. Jahrhundert zur "totalen Mobilmachung" geführt und lebe weiter in der Wachstumsgläubigkeit des globalisierten Kapitalismus, im "rasenden Stillstand".

Die Unruhe ist also, darum geht es Konersmann, kein Phänomen, dem man mit privater Work-Life-Balance beikommen kann. Sie ist vielmehr das Element, in dem wir uns als westliche Menschen immer schon vorfinden. Aufgabe der Zukunft sei es, die Kultur der Unruhe "als unser Eigenes zu begreifen und klug zu begrenzen". Dafür will Konersmann keine eilfertigen Lösungen anbieten. Es wird aber deutlich, wohin seine Sympathien gehen, wenn er Walter Benjamin, dem leisen Verweigerer der "totalen Mobilmachung", ein liebevolles Kapitel widmet und sich in einem gesonderten Abschnitt ausführlich mit der Lebensphilosophie der Stoa befasst: Bei Seneca entdeckt er eine Ruhe, die nicht mit einem verlorenen Paradies verknüpft ist, sondern als immer neu zu erringende menschliche Kulturleistung verstanden wird.

Man ist nach der Lektüre des Buches allemal wacher für die Allgegenwart und Fraglosigkeit der Unruhe in unserer Zeit und um einiges klüger, was die lange Geschichte der westlichen Unrast betrifft. Ein anregendes, anspruchsvolles Buch, das Tiefenschärfe in die Wahrnehmung der Gegenwart bringt und die Voraussetzungen westlichen Selbstverständnisses klärt.

Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015, 461 Seiten, Euro 24,99.

Angelika Obert

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