Auch im zehnten Jahr nach den Hartz IV-Reformen ist die Bilanz immer noch umstritten. Während die einen mit Blick auf die sinkenden Arbeitslosenzahlen von einem Erfolg sprechen, halten andere die Reform für gescheitert. Auch die Wissenschaften sind skeptisch. Ein monokausaler Zusammenhang zwischen der Arbeitsmarktreform und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit lässt sich wissenschaftlich keineswegs belegen.
Christoph Butterwegge kommt das Verdienst zu, genau nachzuzeichnen, wie die Hartz IV-Reformen durchgesetzt wurden, was sie bedeuten und vor allem, was sie mit den Betroffenen gemacht haben. Je mehr er sich mit der Materie beschäftigt habe, desto klarer sei ihm geworden, dass "es sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System voll innerer Widersprüche handelt, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt". Hartz IV bedeutet eine tiefgreifende Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung. Aus einer Lohnersatzleistung, die bei Arbeitslosigkeit den Lebensstandard sicherte, wurde eine bloße Fürsorgeleistung des Staates. Die Arbeitslosenhilfe wurde mit der Sozialhilfe zu einem neuen Arbeitslosengeld II zusammengelegt, faktisch aber abgeschafft und abgesenkt. Der Regelsatz reicht nicht für ein würdevolles Leben. Familien und Kinder sind die Hauptleidtragenden. Hartz IV solle nicht mehr ein Leben in Würde sichern, sondern Erwerbslose drängen, Arbeit um jeden Preis und zu jedem Preis zu akzeptieren. Der Hartz IV-Regelsatz liegt unterhalb der offiziellen Armutsschwelle. Das ist kein unsozialer Nebeneffekt, sondern gewollt. Seitdem nimmt die Armut zu, auch Armut trotz Arbeit. Entstanden sind "Fürsorge-Arbeitnehmer", die arbeiten und ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken müssen. Ein ausufernder Niedriglohnsektor, der bald fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst, befördert die Exportstärke - zu Lasten der Löhne. Profitiert haben die Unternehmen. Erfolgreiches Scheitern - so nennt der Sozialwissenschaftler Klaus Dörre diese Reformen.
Butterwegge kritisiert diesen Paradigmenwechsel mit klaren Worten. Der bisherige sozial aktive Staat sei zu einem "Almosen-, Fürsorge- und Suppenküchenstaat" geworden. Was als "Fordern und Fördern" schöngeredet wird, sind Sanktionen, die Menschen entwürdigen und entmündigen. "Hartz IV weniger Sozial-, gleichzeitig jedoch mehr Überwachungsstaat". Eine "Hartz-IV-Gesellschaft" sei entstanden, denn Hartz IV betrifft nicht nur Erwerblose. Für alle Mitglieder der Gesellschaft hat sich die soziale Fallhöhe vergrößert. Die Angst vor dem sozialen Absturz ist weit verbreitet.
Butterwegge beschreibt sehr detailreich den großen Konsens der ökonomischen und politischen Eliten bei der Durchsetzung der Hartz-Reformen - auch gegen massiven Widerstand der Menschen. Die Rolle der Kirchen aber übergeht er. Dabei haben die damaligen Kirchenspitzen Karl Lehmann und Manfred Kock die Reform aktiv begrüßt und gefördert, ja sogar Verschärfungen gefordert wie eine Absenkung des Arbeitslosengeldes und einen Niedriglohn für Geringqualifizierte.
Die Bilanz ist ernüchternd. Keines der versprochenen Ziele wurde erreicht. Es gibt zwar mehr Arbeit, aber Arbeit, von der man nicht leben kann. Zweimal hatte das Bundesverfassungsgericht Änderungen an Hartz IV angemahnt. Zahllose Gesetzesänderungen waren nötig. Jetzt beginnt die Politik ganz zaghaft, mit der Einführung des Mindestlohnes die schlimmste Unwucht zu glätten. Auch die Diakonie wird wieder klarer. Sie greift alte, aber unterdrückte Forderungen wieder auf und macht sich stark für neue Reformen, um die gröbsten Fehler wieder auszumerzen: Mindestlohn, Erhöhung des Regelsatzes, Lockerung oder gar Abschaffung der Sanktionen, Mindestrente.
Was Butterwegge als Systemwechsel zum amerikanisch-angelsächsischen Wohlfahrtstyp bezeichnet, ist auch ein Wechsel von einem Wohlfahrtstyp, der von der lutherischen Ethik, die vom sozial aktiven Staat und den sozialen Rechten der Bürger geprägt ist, zu einem Wohlfahrtstyp, der sich am US-amerikanischen Leitbild ausrichtet. Damit kommen die Einflüsse von calvinistischen Strömungen zum Tragen, die nur geringe sozialstaatliche Verantwortung des Staates kennen. Sie setzten auf Arbeit um jeden Preis und private Almosen.
Die Hartz IV-Gesetze sind ziemlich missraten, wenn sie an dem Ziel gemessen werden, mehr gute, existenzsichernde Beschäftigung zu erzeugen. Arbeitslose waren vor Hartz IV genauso lang ohne Job wie danach. Butterwegge hat ein wunderbares Buch vorgelegt. Es ist detailreich und kundig. Vor allem aber hat er den richtigen Ton gefunden. Man spürt seinen Zorn über die Deformierung des Sozialstaates und die fatalen Folgen der Hartz-Reformen für alle. Denn Hartz hat die Republik verändert. Das Land ist sozial kälter geworden und die Demokratie wurde beschädigt.
Christoph Butterwegge: Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?
Beltz-Juventa Verlag, Weinheim 2015, 290 Seiten, 16,95 Euro.
Franz Segbers
Franz Segbers
Dr. Franz Segbers ist Prof. em. für Sozialethik am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg.