Christen, Juden oder was?

Die Vielfalt der Messianischen Juden erschwert eine Beurteilung
Messianisch-Jüdischer Gottesdienst in der Berliner Gemeinde Beit Sar Shalom. Foto: Natascha Gillenberg
Messianisch-Jüdischer Gottesdienst in der Berliner Gemeinde Beit Sar Shalom. Foto: Natascha Gillenberg
Juden empfinden diejenigen als Bedrohung, die sich als Juden verstehen und zugleich Jesus als Messias betrachten. Evangelikale unterstützen Messianische Juden, die Landeskirchen bleiben dagegen auf Abstand. Einen Überblick gibt Pastorin Hanna Rucks, deren Promotion über die Messianische Juden in Israel vom evangelikalen "Institut für Israelogie" in Gießen ausgezeichnet wurde.

Sie sind jüdischer Abstammung, und sie halten sich an jüdische Traditionen. Doch ihr Glaube, dass Jesus Christus der Messias Israels ist, verletzt ein Tabu. Sie nennen sich "Messianische Juden". Man kann lesen, sie seien ein "Gift im Schokoladen-Bonbon", oder man kann hören, sie seien die Wiederauferstehung des antiken Judenchristentums, eine Art Christentum, wie es ursprünglich gedacht war. Doch wer sind eigentlich diese Messianischen Juden? Was denken sie, und wie sieht ihr religiöses Leben aus?

Da sich die Messianischen Juden als Juden verstehen, praktizieren sie in der Regel die Beschneidung und feiern ihre Gottesdienste am Samstag, am Sabbat. Doch variiert, wie stark sie diesen Tag - und generell ihr Leben - nach dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, ausrichten.

Der christliche Rand der Bewegung distanziert sich von der Toraobservanz. Der Mainstream befolgt eine gewisse Auswahl an Geboten. Welche, bestimmt jeder für sich selbst. Manche sehen sich den alttestamentlichen Geboten verpflichtet, weil sie in ihnen Gottes Wille für das jüdische Volk sehen. Sie halten diese Gebote soweit möglich, aber nicht in ihrer rabbinischen Weiterentwicklung. Andere befolgen dagegen zentrale Gebote der rabbinischen Halacha, weil sie darin einen Ausdruck ihrer jüdischen Identität sehen.

Im jüdischen Flügel der Bewegung hat sich in den USA inzwischen ein weiterer Zugang herausgebildet. Ein "Messianic Jewish Rabbinical Council" vertritt eine eigene, messianisch-jüdische "Halacha", ein eigenes Religionsgesetz. Die meisten Anhänger der Bewegung betonen, dass das Halten der Gebote kein "Erarbeiten des Himmels" ist. Denn ewiges Leben werde durch Jesus Christus erlangt, nicht durch die Toraobservanz. Hier spürt man den großen Einfluss, den evangelikale und charismatische Christen auf die messianisch-jüdische Bewegung ausüben. Aber gleichzeitig schafft das Thema Toraobservanz auch eine Distanz zwischen evangelikalen Christen und Messianischen Juden. Je stärker Messianische Juden die Halacha befolgen, desto kritischer reagieren diese christlichen Kreise. Sie sehen häufig ein Problem in der Übernahme rabbinischer Toraobservanz.

Messianische Juden feiern die jüdischen Feste, die auch im Alten Testament als Festtage dem Volk Israel geboten werden. Und teilweise begehen die Gemeinden zusätzliche jüdische Feste wie Chanukka. Doch messianisieren sie diese. Mit Hilfe von jüdisch-orthodoxen Traditionen und Liturgien, dem Alten und dem Neuen Testament, werden eigene Festformen entwickelt. Und das kann so aussehen: An einem jüdischen-orthodoxen Passafest stehen drei ungesäuerte Brote, Mazzen, auf dem Tisch. Im Laufe des Abends wird die mittlere in zwei Teile zerbrochen. Messianische Juden deuten die drei Mazzen gerne als Zeichen für Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist. Und die zerbrochene mittlere Mazze symbolisiert dann Jesu Tod, seinen gebrochenen Leib.

Während ihr Jahr stark vom jüdischen Rhythmus geprägt ist, leben Messianische Juden ihren Wochenzyklus weitgehend christlich. Nur am jüdischen Rand der Bewegung werden die drei jüdischen Tagesgebete verrichtet. Und die Sabbatgottesdienste haben in den meisten Gemeinden eine freikirchlich-christliche Grundstruktur. In diese fügen Messianische Gemeinden oft liturgische Teile des jüdisch-orthodoxen Sabbatgottesdienstes ein. Eine eigene Musikliteratur - geprägt vom Stil amerikanischer Worship-Lieder - ist in der Bewegung entstanden. Außerdem feiern Messianisch-Jüdische Gemeinden Abendmahl. Beliebt ist, das Abendmahl in Verbindung mit dem Pessachfest zu begehen. Es können bei einer Abendmahlsfeier auch jüdische Traditionen wie ein Segensspruch des Kiddusch, die Segnung über Brot und Wein aufgenommen werden: "Gepriesen seist Du, Herr unser Gott, König der Welt, Schöpfer der Frucht des Weinstocks." Und getauft werden Erwachsene - durch Untertauchen des ganzen Körpers.

Im Mainstream der Bewegung findet man einen christlich-orthodoxen Jesusglauben. Zwar sind viele Gemeindeleiter theologisch wenig ausgebildet oder empfinden es als unjüdisch, das Wesen Gottes genau zu beschreiben. Man wird selten hören, dass man es mit der Zweinaturenlehre hält. Doch dass Jesus Gott und Mensch in einem ist, gehört zum allgemeinen Lehrgut. Häufiger stellen Messianische Juden aber die Trinitätslehre in Frage. Und das findet man sogar in einem Teil des Mainstreams. Dabei wird das Dogma aber selten rigoros abgelehnt. Eher wird die Trinitätslehre in ihrer Bedeutung abgeschwächt als nachträgliche, mögliche - aber nicht zwingende - Interpretation des biblischen Zeugnisses. Im Gemeindealltag sieht die Gotteslehre deshalb nicht anders aus als in vielen evangelischen Kirchen. Mit den Worten eines aus Amerika stammenden Messianischen Juden: "Da ist der Vater, da ist der Sohn und natürlich der Heilige Geist. Wir heben sie alle hervor in unserer Lehre und Predigt. Ich sehe sie alle als eins. Aber Dreieinigkeit ist normalerweise nichts, worüber wir in der Gemeinde sprechen."

Interessanterweise betonen Messianische Juden in den verschiedenen Erdteilen ihr Judentum auf unterschiedliche Weise. Und das hat einen guten Grund: Jüdische Identität drückt sich schließlich in verschiedenen Ländern unterschiedlich aus. In Israel beruht sie stark darauf, israelischer Staatsbürger zu sein. Und in der Diaspora spielt die religiöse Praxis eine größere Rolle. Darum hält sich die Messianisch-Jüdische Bewegung in Israel weniger an die Halacha und jüdisch-religiöse Bräuche als jene in Amerika.

Mehrheit gegen Konvertiten

Während in den USA im Sabbatgottesdienst das Tragen von Kippa und Gebetsschal gebräuchlich ist, findet man das in Israel eher selten. Wieder anders sieht die Situation für die Messianischen Juden russischer Sprache aus. In der Sowjetunion wurde ja jede religiöse Praxis bekämpft. "Jude" war eine ethnische Bezeichnung wie Ukrainer oder Georgier. So wusste die große Mehrheit der Sowjetjuden als der Eiserne Vorhang fiel kaum etwas über jüdische Religion und Lebenspraxis. Jene, die durch Kontakt zum sowjetischen Protestantismus oder durch Berührung mit christlichen Missionaren aus dem Westen zum Jesusglauben kamen, konnten die neuen religiösen Ideen nicht mit gelebter jüdischer Spiritualität verbinden. Meist lernten sie diese erst nach ihrer christlichen Prägung kennen. Die Messianischen Juden russischer Sprache sind daher im Allgemeinen christlicher als ihre Glaubensgeschwister amerikanischer oder israelischer Abstammung. Allerdings lässt sich auch unter ersteren eine zunehmende Hinwendung zu rabbinischer Tradition beobachten.

Wer zählt in der Messianisch-Jüdischen Bewegung als Jude? Im religiösen Judentum ist umstritten, wie sich das Judesein vererbt. Die jüdische Orthodoxie hält all jene für Juden, die von einer jüdischen Mutter geboren wurden oder zum Judentum konvertiert sind. Im Reformjudentum, das zahlenmäßig ähnlich groß ist wie das orthodoxe Judentum, gilt als Jude, wer eine jüdische Mutter oder einen jüdischen Vater hat. Auch Messianische Juden erkennen - mit Ausnahmen an den Rändern der Bewegung - jeden als Juden an, der einen jüdischen Elternteil hat.

Ob Konversionen zum Messianischen Judentum möglich sind, wird in der Bewegung diskutiert. International ist eine deutliche Mehrheit dagegen, und die Zahl der Konvertiten ist entsprechend gering. Trotzdem wirken in Messianisch-Jüdischen Gemeinden sehr häufig Nichtjuden mit. Besonders außerhalb Israels ist ihr Anteil in den Gemeinden hoch. Das wird in der Messianisch-Jüdischen Bewegung aber nicht als Konversion gewertet: Diese Gemeindeglieder gelten als "Messianische Nichtjuden".

Zu Messianischen Nichtjuden und den Mitgliedern der Großkirchen, ist das Verhältnis angespannt. Manche Christen empfinden die Bewegung als zu wenig offen für das rabbinische Judentum und als nichtjüdisch. Andere sehen einen Missbrauch darin, dass Messianische Juden rabbinische Gebete und Traditionen übernehmen. Und andere sehen in der Übernahme jüdisch-rabbinischer Traditionen ein Judaisieren, das der Apostel Paulus verboten hat.

Ein weiterer Stolperstein ist das Thema "Mission". Da viele Messianische Juden das Anliegen haben, ihren Jesusglauben mit anderen - gerade auch mit anderen Juden - zu teilen, wird die Bewegung oft pauschal als Judenmission verurteilt. Aber es stellt sich die Frage, ob Messianisch-Jüdische Mission als christliche Judenmission zu werten ist oder als innerjüdische Mission, wie sie auch andere Richtungen des Judentums praktizieren.

Wie offensiv Messianische Juden missionieren, variiert von Person zu Person. Es reicht vom Flyerverteilen auf der Straße bis zum Verschweigen der eigenen Überzeugungen aus Angst vor Diskriminierung. Grundsätzlich hat sich in der Begegnung mit den Großkirchen in den vergangenen zwanzig Jahren viel getan. Seit Jahren existiert ein römisch-katholisch/Messianisch-Jüdischer Dialog. Und seit fünf Jahren treffen sich bei der internationalen "Helsinki Consulation" Messianische Juden und Kirchenmitglieder jüdischer Abstammung.

In Deutschland ist das Verhältnis zwischen den Messianischen Juden und den Kirchen besonders sensibel. Die hiesige Bewegung ist seit den Neunzigerjahren, mit der Einwanderung von Sowjetjuden, neu entstanden. Und sie ist wegen des besonderen Hintergrundes der Sowjetjuden möglicherweise stärker von evangelikalem und charismatischem Gedankengut beeinflusst als andernorts. Aber sie ist - abgesehen von einer historisch-soziologischen Studie - noch wenig erforscht worden. Das Gespräch mit Messianischen Juden ist eine Begegnung mit Menschen, über die man nicht sehr viel weiß. Sie kommen aus einem anderen Kulturkreis. Und sie pflegen weitgehend eine andere, evangelikalere theologische Sprache und Reflexion als die Großkirchen. Dazu kommt, dass viele hiesige Juden die Messianisch-Jüdische Bewegung als Bedrohung empfinden. Das macht die Begegnung mit Messianischen Juden für alle schwierig, die im christlich-jüdischen Dialog stehen. Denn der Dialog von Christen und Juden soll nicht gefährdet werden.

Aber wir kommen meines Erachtens nicht darum herum, das zentrale Anliegen der Messianischen Juden ernst zu nehmen. Im Leib Christi müssen Menschen jüdischer Abstammung auch eigene, judenchristliche Wege gehen können. Erste Schritte in Richtung Dialog gab es auf dem Stuttgarter Kirchentag. In einem Trialog diskutierten der Jude Micha Brumlik, der evangelische Bischof Ralf Meister und der Messianische Jude Richard Harvey miteinander. Es bleibt zu hoffen, dass solche Gespräche fortgesetzt werden.

Hanna Rucks

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