Ihre Lebensgeschichte liest sich wie ein "Who is Who" der europäischen Kunst und Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts: Igor Strawinsky, Claire Goll, Arnold Schönberg, Else Lasker-Schüler, Hermann Hesse sind nur einige der Berühmtheiten, mit denen die russische Künstlerin Marianne von Werefkin zusammentraf. Dazu Franz Marc, Wasily Kandinsky, Gabriele Münter, August Macke, Paul Klee und die anderen Künstler rund um die Neue Künstlervereinigung München (n.k.v.m.). Aus ihr erwuchs der Kreis des "Blauen Reiter", von dem Kandinsky später sagte: "Den Namen Der Blaue Reiter erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf. Beide liebten wir Blau, Marc - Pferde, ich - Reiter. So kam der Name von selbst." Fast lebenslang verbunden in einem Wechsel von Leidenschaft und Distanz, von Hochs und Tiefs der Liebe, war Marianne von Werefkin (1860-1938) ihrem Künstlerkollegen Alexej von Jawlensky. Er war, wie Brigitte Roßbeck schreibt, das "Objekt/Subjekt ihrer Obsession". In ihrer akribisch recherchierten und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehenen Biographie erzählt die Historikerin und Publizistin umfassend und detailliert von den verschiedenen Lebensstationen einer starken und emanzipierten Frau: von den frühen Jahren in ihrer russischen Heimat und der Prägung und Förderung durch ein wohlhabendes und gebildetes Elternhaus über die Zeit in Deutschland bis hin zu den letzten 24 Jahren in der Schweiz. Dorthin trieb es von Werefkin nach Beginn des Ersten Weltkriegs, der die Russin in Deutschland zu einer unerwünschten Person gemacht hatte. Der Krieg war es auch, der ihr Leben wie das vieler ihrer Zeitgenossen vollends veränderte. Vor allem bedeutete er für die russische Baronin den Abschied von Reichtum und Privilegien. Ihrem künstlerischen Schaffen aber tat das keinen Abbruch - obwohl sie immer wieder zum Broterwerb auch Auftragsarbeiten wie Postkarten- oder Plakatentwürfe übernahm. Was Marianne von Werefkin für die europäische Kunstgeschichte so bedeutsam macht, ist ihre Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Sie war eine Avantgardistin - vor allem in der Verwendung von Farbe und Form sowie in der Rückbesinnung auf volkstümliche Kunst. Besonders in ihrer Zeit im oberbayerischen Murnau, im später wegen seines besonderen Lichts so genannten Blauen Land, entstanden eindrucksvolle expressionistische Orts- und Landschaftsbilder.
Bereits vor der Jahrhundertwende hatte von Werefkin in dem Statut der Künstlergemeinschaft der "Bruderschaft von Sankt Lukas" eine Art kunstgeschichtlicher Proklamation formuliert, die, wie Roßbeck schreibt, eine Zäsur dokumentiert, mit der Vergangenheit bricht, den Impressionismus für überwunden erklärt und in der Ankündigung des Expressionismus gipfelt. Die zentralen Aussagen dazu finden sich in einem Tagebucheintrag Marianne von Werefkins: "Es ist nicht die Kunst der Griechen, noch die heitere der Renaissance, noch die unverfälschte der Niederlande, noch die großartige Spaniens, noch die abgelebte Kunst unserer Tage. Es ist die Abwesenheit der Kunst, es ist das Herz, das sich der Pinsel bemächtigt. ... Die Kunst der Zukunft ist die emotionale Kunst." Und noch einmal: "Die Kunst der Zukunft ist die der Emotion."
Dieser Satz dürfte der Schlüssel zum Werk von Werefkins sein, von dem das Buch einige wenige anschauliche Beispiele liefert. Dennoch: Ein Gewinn für die Biographie, die nun als Taschenbuch vorliegt, wäre es gewesen, wenn die Autorin, die im Siedler Verlag soeben auch eine Arbeit über von Werefkins Künstlerkollegen Franz Marc vorgelegt hat, zugunsten einer etwas intensiveren Beschäftigung mit dem Werk vielleicht auf manches Detail aus der Lebensgeschichte verzichtet hätte.
Brigitte Roßbeck: Marianne von Werefkin. Die Russin aus dem Kreis des Blauen Reiters. Btb Verlag, München 2015, 336 Seiten, Euro 12,99.
Annemarie Heibrock
Annemarie Heibrock
Annemarie Heibrock ist Journalistin. Sie lebt in Bielefeld.