Höchste Zeit, dass Anne Helene Kratzert eine fundamentaltheologische Untersuchung zur Buße vorlegt. Die Reformation begann 1517 mit der Infragestellung des Bußsakraments. Da darf auch ein Reformationsjubiläum nach 500 Jahren fragen, was die Buße sei. Der Titel dieser Dissertation verweist auf Luthers erste Ablassthese: "Als Jesus Christus sagte: "Tut Buße", wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei." Kratzert tut gut daran, Buße nicht von der Schuld oder der Sünde abzuleiten. Ihre Durchdringung von Luthers Bußverständnis entwickelt ein evangelisches Fundament. Danach ist das christliche Handeln in seinem Kern Bußhandeln und wird von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben bestimmt. Diese sei nicht einfach der Erwerb einer billigen Gnade, sondern setze die schmerzhafte Erkenntnis eigener Heils- und Erlösungsbedürftigkeit voraus. Kernpunkte für das reformatorische Bußverständnis sind die Reue als Ursprung der Buße und die Erfahrung des verborgenen Gottes (Deus absconditus).
Die Autorin unterscheidet ein inneres und ein äußeres Bußgeschehen. Innerlich sei die Buße ein Ereignis als anthropologische Widerfahrnis des Glaubens, welches das Menschen- und Gottesbild in christologischen und pneumatologischen Dimensionen verändere. Luthers Kritik am äußeren Geschehen des Bußsakraments habe, so Kratzerts These, dazu geführt, dass das Proprium des evangelischen Glaubens und der Kirche die Buße sei. "Die evangelische Kirche ist eine Bußgemeinschaft."
Wie weit trägt diese These? Erhellend sind Überlegungen zu "modernen Bußen", etwa die innere Reinigung durch Fitness und Körperkult oder die Fülle an Ratgeberliteratur. Die theoretische Verankerung der Arbeit in der Postmoderne und der Individualisierungsthese regt zu weiteren Fragen an: Wenn der Mensch frei ist in der Wahl von Lebensentwürfen, wozu soll er umkehren? Ist die Geschichte Gottes mit den Menschen eine jener "großen Erzählungen", deren Ende Lyotard festgestellt hat? Und um welche "Sprachspiele", um welche Ästhetik geht es in der Buße?
Vor allem auf die letzte Frage sucht Kratzert nach Antwortspuren bei dem Theologen Henning Luther (1947-1991). Sie leistet dabei eine bedeutende Darstellung der inneren Beweggründe dieses Theologen des 20. Jahrhunderts und vergleicht ihn mit Martin Luther: Die prinzipielle Fragmentarität der Ich-Identität korrespondiere mit dem Bewusstsein des Menschen, nichts als Büßer zu sein. Der reformatorischen Spannung des Menschen coram deo entspreche die Spannung des Menschen als Fragment zu seiner Ganzheit, "die in ihm als abwesende anwesend ist und die ihn als Schmerz und Sehnsucht dynamisiert."
Die Wiederentdeckung, dass die Buße dynamisch ist, lässt hoffen - auch dass das Reformationsjubiläum nicht nur Gedenken ist, sondern in Bewegung bringt und zur Umkehr ruft. Dazu tragen die sieben Bausteine zu einer praktischen Theologie evangelischer Buße im Schlusskapitel von Kratzerts Arbeit bei.
Es ist gut und entspricht dem Faible der Autorin für Henning Luther, dass Fragen offen bleiben. Künftig wird zu diskutieren sein, ob der Kern der Buße in einem "Bewusstsein des Sünderseins" liege oder ob die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit nicht auf gute Werke der Buße dränge, wie das Bekenntnis oder die Sühne.
Die Dynamik der Buße, und das macht Kratzerts Arbeit so lesenswert, liegt in ihrer höchst differenzierten Möglichkeit, neue Perspektiven auf das eigene und das gemeinschaftliche Leben zu gewinnen, und darin insbesondere bei Scheitern oder Verfehlungen eine begründete Hoffnung zu finden und neu anzufangen.
Anne Helene Kratzert: "... dass das ganze Leben Buße sei." Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2014, 352 Seiten, Euro 48,-.
Gunther Barth