Zwischen gut und gut gemeint

Beobachtungen zum Verhältnis von Islam und Grundgesetz
Islam und Grundgesetz – wie geht das zusammen? Foto: epd/ Jörn Neumann
Islam und Grundgesetz – wie geht das zusammen? Foto: epd/ Jörn Neumann
Darf es für Muslime Sonderrechte geben? Wie können Moscheegemeinden Körperschaftsstatus erlangen, und wie soll islamische Theologie an deutschen Hochschulen verankert werden? Hans Michael Heinig, Professor für Öffentliches Recht an der Universität in Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, gibt einen Überblick und schätzt die Entwicklung ein.

In der Theorie ist die Sache eigentlich ganz einfach: Nach dem Grundgesetz sind alle Religionen und Weltanschauungen gleich zu behandeln. Diskriminierungen sind verboten. Die besonderen Institute des Staatskirchenrechts sind mit einem Gleichheitsversprechen versehen. Alle Religionsgemeinschaften haben das Recht, dass in öffentlichen Schulen nach ihren Grundsätzen Religionsunterricht erteilt wird. Alle können freie Wohlfahrtsverbände ausbilden und werden dann für die Leistungserbringung aus den Sozialkassen bezahlt. Alle Religionsgemeinschaften können Gefängnisseelsorge anbieten. Alle erhalten auf Antrag die Rechte einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und damit die Möglichkeit, Mitgliedsbeiträge in Form einer Steuer einzuziehen.

Doch in der Praxis bereitet die gleichberechtigte Integration des organisierten Islam in das deutsche Religionsrecht seit vielen Jahren Probleme. Praktische Fortschritte gab es in den vergangenen Jahren immer nur dort, wo politischer Wille einen kreativen Umgang mit dem geltenden Recht beförderte. Islamischer Religionsunterricht wird in der Regel jenseits des von Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz vorgegebenen Rahmens erteilt. Die Handhabung ist Ländersache. Teils werden die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Vorliegen einer "Religionsgemeinschaft" lax verstanden, teils üben plural besetzte Beiräte gegenüber dem religiös-weltanschaulich neutralen und damit dafür nicht kompetenten Staat bestimmte Mitwirkungsrechte aus, wobei dann bewusst unklar bleibt, ob diese Beiräte für islamische Religionsgemeinschaften oder statt ihrer tätig werden.

Mit solchen Beiratsmodellen wurde islamische Theologie an bisher vier Standorten etabliert, nämlich in Frankfurt am Main/Gießen, Münster/Osnabrück, Erlangen/Nürnberg und Tübingen. Das Modell ist anfällig für Verstöße gegen die staatlichen Neutralitätspflichten, da die Auswahl der Partner nach Maßgabe politischer Willfährigkeit zu erfolgen droht. In Hamburg schlossen muslimische Dachverbände und Senat im Sommer 2012 einen Vertrag in Anlehnung an Konkordate und Staatskirchenverträge, ohne deren besondere Bindungswirkung zu übernehmen. Die Bürgerschaft hat den Vertrag politisch gebilligt, aber nicht in Gesetzesform ratifiziert. Weitere Bundesländer überlegen, diesem Beispiel zu folgen.

In der Zusammenschau kamen somit zahlreiche pragmatisch begründete Lösungen zustande, die in der Summe aber gerade das Gegenteil dessen bewirkten, was intendiert war: Sonderregelungen für den organisierten Islam statt umfängliche Gleichstellung der Muslime. Was religionspolitisch gut gemeint war, könnte sich auf Dauer als kontraproduktiv erweisen. Jedenfalls verdichtet sich bei Verbandsvertretern der Eindruck, sie würden gegenüber anderen Religionsgruppen strukturell benachteiligt.

Dabei darf man nicht vergessen, dass die demokratisch ausgehandelten interimistischen Behelfslösungen besser sind als der Zustand davor. Denn lange Zeit wurde gar keine planvolle Religionspolitik betrieben. Eine nennenswerte politische Auseinandersetzung über spezifische Bedürfnisse und Interessen der muslimischen Bevölkerung fand nicht statt. Sie wurde deshalb im Medium des Rechts, das heißt vor den Gerichten, ausgetragen (Gerichtsstreitigkeiten um das Schächten, Schulbefreiungen, Schulgebete, Kopftuch am Arbeitsplatz). Soziologen sprechen von justiziell geführten "Anerkennungskämpfen", wiewohl das deutsche Religionsrecht ein besonderes Anerkennungsverfahren gerade nicht kennt. Abhilfe für die politische Sprachlosigkeit brachte erst die Deutsche Islamkonferenz, die das erste Mal im September 2006 zusammentrat.

Ein Grund für den Staat, provisorische Lösungen voranzutreiben, liegt in der mangelhaften Selbstorganisation der Muslime. Sie wirkt weiteren Fortschritten, etwa der Verleihung des Körperschaftsstatus, zurzeit noch entgegen. Die meisten bestehenden Organisationen sind nur unzureichend als Religionsgesellschaften beziehungsweise Religionsgemeinschaften, das heißt mitgliedschaftlich verfasste Körperschaften, strukturiert. Viele Muslime nutzen das religiöse, kulturelle und soziale Angebot der Verbände und ihrer Moscheen, aber nur wenige werden Mitglied. Doch das Grundgesetz begründet eine Bringschuld der Gläubigen, die an den staatskirchenrechtlichen Kooperationsformen teilnehmen wollen, sich in Religionsgemeinschaften zu organisieren. Dies ist allen Religionen und Weltanschauungen zumutbar, ist doch verfassungsrechtlich keine "Verkirchlichung" nach Art der beiden christlichen Großkirchen gefordert, sondern vor allem eine mitgliedschaftliche Verfasstheit, in der klar wird, wer wo zugehört und wer für wen spricht. Nur so kann der Staat in der Kooperation mit den Religionen seiner Bürger selbst seine religiös-weltanschauliche Neutralität wahren und die negative Religionsfreiheit Dritter effektiv schützen.

Innermuslimische Minderheiten wie die Aleviten und Ahmadiyya zeigen, dass es keine grundsätzlichen theologischen Vorbehalte im Islam gegenüber einer verfassungsgemäßen Selbstorganisation gibt. Mit den örtlichen Moscheegemeinden sind auch in den großen Verbänden Anknüpfungspunkte für eine personenspezifische Zuordnung vorhanden, die die Dachverbände konsequent ausbauen sollten. Ein Verband, DITIB, weist zudem das Sonderproblem auf, dass er ungeachtet des Laizitätsgrundsatzes im türkischen Verfassungsrecht eng mit der türkischen Religionsbehörde verbunden ist. Das Verfassungsverbot einer Staatsreligion (Artikel 137, Absatz 1, Weimarer Reichsfassung, der auch Bestandteil des Grundgesetzes ist) betrifft zwar nur die deutsche Staatsgewalt; gleichwohl müssen ausländische Staatskirchen sich in Deutschland so organisieren, dass Gefährdungen der Religionsfreiheit ausgeschlossen sind. Deshalb wären bei DITIB organisatorische Vorkehrungen hilfreich, die den Verband stärker vor türkischen Staatseinflüssen abschirmen.

Die Debatte um die Rolle des Islam im deutschen Staatskirchenrecht wird auch durch den breiteren gesellschaftspolitischen Kontext befeuert. Die empirische Sozialforschung weiß zu berichten, dass eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung generell den Prinzipien gleichberechtigter Religionsfreiheit zustimmt, aber eine ebenso große Mehrheit gegen eine Gleichbehandlung des Islam votiert. Manche Stimmen erklären den Islam für kulturfremd und deshalb nicht integrierbar. Der moderne Verfassungsstaat sei ungeachtet aller Säkularisierungstendenzen in der westlichen Welt notwendig angewiesen auf die Prägekräfte des Christentums.

Angesichts der langen Konfliktgeschichte der christlichen Kirchen mit dem Ordnungsmodell liberaler Demokratien sollte man gegenüber einem solch rabulistischen Kulturalismus skeptisch sein. Pauschalurteile über die Integrationsunfähigkeit des Islam sind oft auch Ausdruck islamophober Einstellungen, die ihrerseits zu Leitideen des modernen Verfassungsstaates in Widerspruch stehen. In den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ist tunlichst zwischen Religionskritik und Anwendung des geltenden Religionsrechts zu unterscheiden. Gesellschaftliche Anfragen an den organisierten Islam, etwa wegen seiner orthodoxen Glaubens-praxis, der Ablehnung historisch-kritischer Methoden in der Theologie oder vorherrschender Geschlechterkonstruktionen, sind in einer freiheitlichen Gesellschaft völlig legitim. Die Gesellschaftspraxis islamisch geprägter Staaten und der Mainstream islamischer Theologie legen die Frage nahe, wie in islamischen Religionskulturen Menschenrechte, Pluralismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit reflektiert werden. Doch der Staat des Grundgesetzes ist kein Glaubenswächter. Auf die Modernität der Religionen kann er allenfalls mittelbar Einfluss nehmen. Integrations- und sicherheitspolitische Zwecke darf der Staat nur im Rahmen des geltenden Rechts verfolgen. Die verfassungsrechtlich gebotene Förderung und Kooperation kann er deshalb nur dort verweigern, wo die Verfassung selbst Grenzen setzt, insbesondere wegen kollidierender Rechte Dritter.

Gleiche Freiheit für alle

Die religionsrechtliche Praxis, insbesondere die Rechtsprechung mit dem Bundesverfassungsgericht an der Spitze, zeigt sich von islamkritischen Meinungen in Teilen der Bevölkerung unbeeindruckt. Die Gesamtheit der bisherigen Urteile orientiert sich strikt an dem von der säkularen Verfassung vorgegebenen Programm gleicher Freiheit. Auf dieser Grundlage lassen sich für die meisten Konstellationen sinnvolle Lösungen finden: In baurechtlichen Konflikten um Moscheen wendet die Verwaltungsgerichtsbarkeit schlicht das geltende Baurecht an. Tierschutzrechtliche Regelungen zum Schächten werden im Lichte der Religionsfreiheit extensiv, also erweitert, ausgelegt. Schulbefreiungen aus religiösen Gründen werden von den Verwaltungsgerichten allenfalls für den koedukativen Sportunterricht gewährt, nicht jedoch für andere Fächer; zudem entscheiden die Gerichte mit Verweis auf den staatlichen Erziehungsauftrag zunehmend restriktiver. An gewisse Grenzen der dem Religionsverfassungsrecht eigenen Integrationskraft stießen die Gerichte im Streit um religiöse Symbole: Ob in öffentlichen Schulen Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürfen, habe der Gesetzgeber zu entscheiden, so das Bundesverfassungsgericht im September 2003. Es gilt nun abzuwarten, wie sich die neue gegenläufige Entscheidung Karlsruhes in Sachen Kopftuch vom 13. März 2015 in der Praxis auswirkt.

Die gesamte gerichtliche Entscheidungspraxis zeigt, dass das Grundgesetz staatliche Pauschalurteile über den Islam nicht zulässt. "Den" Islam gibt es verfassungsrechtlich gesehen gar nicht - sondern nur konkrete Menschen muslimischen Glaubens und islamische Organisationen in den Formen staatlichen Rechts. Gerade das ist eine wesentliche Errungenschaft des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates.

Im Streit um Karikaturen Mohammeds verdichten sich viele Debatten um den Platz des Islam in den politischen Ordnungen des Westens wie in einem Brennglas. Rechtskonflikte und Kulturkonflikte greifen hier Hand in Hand. Der Bilderspott über den Propheten verletzt viele Muslime in ihren religiösen Gefühlen. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft reagiert darauf mit Unverständnis. Teile haben mit Religion eh nichts mehr am Hut. Die Mehrheit der Christen ist abgeklärt -aufgeklärt. Die Kirchen haben gelernt, dass Empörung die Aufmerksamkeit für Gotteslästerer und Kirchenkritiker nur steigert. Sie wissen, dass sich in der modernen Mediengesellschaft alles versendet und sich der nächste Nachrichtenzyklus immer schneller dreht.

Freiheitliche Verfassungsordnungen muten den religiösen Bürgern in Fragen der Religionskritik viel zu. Das Grundgesetz schützt und achtet die Würde des Menschen - aber nicht die Ehre Gottes. "Gott ist kein Grundrechtsträger", hat der Bonner Staatsrechtslehrer Josef Isensee einmal pointiert notiert. Religionsfreiheit ist nur denkbar, wenn sie auch das Recht zur Blasphemie umfasst - und Gotteslästerung wirkt immer auch verletzend auf Gläubige. Deshalb schützt die Rechtsordnung keine religiösen Gefühle. Auch gehen in freien Gesellschaften die öffentliche Mitverantwortung der Religionen für das Gemeinwesen und das Recht auf öffentliche Kritik an den religiösen Gemeinschaften Hand in Hand. Eine Grenze setzt unsere Rechtsordnung den Spöttern und Verächtern der Religion erst dort, wo die persönliche Ehre des einzelnen Gläubigen verletzt ist oder der öffentliche Frieden bedroht wird. Das strafrechtliche Verbot der Religionsbeschimpfung nach § 166 StGB ist deshalb für die Rechtspraxis nahezu bedeutungslos. Toleranz und Duldsamkeit lassen sich mit den Mitteln des Strafrechts halt nicht erzwingen.

Zugleich erinnern uns Muslime, die ihren Ärger über Mohammed-Karikaturen friedlich Ausdruck verleihen, daran, dass Respekt gegenüber den religiösen Empfindsamkeiten auch eine Frage der persönlichen Haltung und des Anstands ist. Wer um seiner Meinungs- und Kunstfreiheit willen zu keinerlei Rücksichtnahme auf Dritte bereit ist, mag juristisch im Recht sein und setzt sich doch ins Unrecht, wenn Schaden nimmt, was eine zivilisierte Gesellschaft ausmacht: wechselseitige Achtsamkeit.

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Hans Michael Heinig

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Foto: Daniel Moelle

Hans Michael Heinig

Hans Michael Heinig ist seit 2008 Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Universität Göttingen sowie Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.


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