Lege deinen Finger hierher

Der Geist des Johannes: Die Verletzlichkeit als Kern koreanischer feministischer Theologie
Vor vier Jahren: Gottesdienst in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang aus Anlass des Besuches einer Weltkirchenratsdelegation. Foto: epd / Peter Williams
Vor vier Jahren: Gottesdienst in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang aus Anlass des Besuches einer Weltkirchenratsdelegation. Foto: epd / Peter Williams
Dem Johannesevangelium sind alle Ämter, Organisationen und Systeme im Grunde zutiefst gleichgültig. Es lässt vielmehr die heilige Geistkraft frei sein. Dies ist die Grundlage der feministischen Theologie der Koreanerin Meehyun Chung. Sie lehrt in Seoul Systematische Theologie. Im Jahre 2006 erhielt sie als erste Frau den Karl-Barth-Preis der Union Evangelischer Kirchen in der EKD.

Zur Zeit der drei koreanischen Königreiche Koguryu, Baekje und Shilla fällte die römisch-katholische Kirche 664 n. Chr. in ihrer Synode von Whitby in Britannien einen wichtigen Entscheid. Es ging um die zukünftige Richtung der westlichen Christenheit. Zwei Arten von Mission wurden diskutiert. Die eine war die keltische Mission, die sich auf Johannes berief: "Einer von den Jüngern Jesu lag in seinem Schoß, der, den Jesus liebte." Der andere Missionsweg war derjenige der römisch-katholischen Kirche, gegründet auf der besonderen Autorität des Petrus, zu dem Jesus sagte: "Und ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore des Totenreichs werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben, und was du auf Erden bindest, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden löst, wird auch im Himmel gelöst sein."

Zwischen beiden Auffassungen gibt es einen gewichtigen Unterschied: Während der erste Weg das Gutsein der Schöpfung und die Gottebenbildlichkeit des Menschen höher wertet als die Erbsünde, betont der zweite Weg dessen Sündhaftigkeit und die Autorität der Kirche. Die Synode von Whitby bekannte sich nachdrücklich zur römisch-katholischen Mission, mit dem Resultat, dass künftig die Christenheit vom autoritären Missionsmuster der römischen Kirche geprägt wurde. Doch auch wenn der keltische Missionsweg marginalisiert worden war, ganz verschwand er nicht. In der letzten Zeit tritt er zunehmend - in der westlichen Gesellschaft, aber auch global - wieder in Erscheinung.

Der schottische Theologe J. Philipp Newell bemüht sich um die Wiederentdeckung der keltischen Spiritualität und sagte über die Synode von Whitby: "Das tragische Ergebnis der Synode war nicht, dass sie die römische Mission gewählt hat, sondern dass sie weder Raum in der Kirche geschaffen hat für beide Wege, noch festgehalten hat, dass beide in der Tradition der Evangelien fest verwurzelt sind."

Schließlich gingen Johannes und Petrus beide zum leeren Grab Jesu und bezeugten seine Auferstehung. Die johanneische Auffassung betont, dass Gott das ganze Leben umfasst, sie betont gewissermaßen die verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb der Schöpfung: Das Licht des Lebens existiert in jeder Kreatur. Johannes und Petrus haben verschiedene Weisen, auf Gott zu hören. Horcht Johannes gleichsam kontemplativ auf den Herzschlag Gottes in der Schöpfung, verkörpert Petrus den extravertierten Charismatiker.

Jede der beiden Missionstraditionen kann sich also darauf berufen, dass ihre Wurzeln in der Bibel liegen. Aber weil nur die eine von der Synode von Whitby akzeptiert wurde, hat dies die Richtung der Christenheit in fataler Weise beeinflusst. Wären beide Wege anerkannt worden, hätte die zwischen den beiden existierende Spannung in der Geschichte des Christentums wohl eine positivere, kreative Wirkung erzeugt.

Was zieht mich beim Johannesevangelium so an? Ich hoffe, in ihm ein Gegengewicht zu den Vorstellungen zu finden, die die sehr konfuzianistisch geprägte, hierarchisch strukturierte Gesellschaft Koreas in sich trägt und die ihren Zugang zum Christentum gravierend beeinträchtigen.

Dem Johannesevangelium sind alle Ämter, Organisationen und Systeme im Grunde zutiefst gleichgültig. Eine Hierarchie zwischen säkularen und heiligen Orten gibt es hier nicht. Und das entspricht dem reformierten Prinzip. Johannes lässt die heilige Geistkraft frei sein. Wer geistlich neu geboren ist, braucht nicht durch Gesetze und Regeln gebunden zu werden, es geht um freie Menschen, die mit der heiligen Geistkraft leben und nicht von speziellen Ämtern oder Institutionen abhängig sind.

Neues Kirchenmodell

Das bedeutet bis auf den heutigen Tag: Eine johanneische Gemeinde unterläuft in gewisser Weise die institutionalisierte und dogmatisierte Kirche mit ihrer Betonung der hierarchischen Ordnung, indem sie ein neues Kirchenmodell anregt. Sie repräsentiert Anti-Institutionalismus, Anti-Autoritarismus und Anti-Formalismus: Niemand soll ein Sklave kirchlicher Ämter, Systeme oder Institutionen sein. Als Alternative zum Klerikalismus der entstellten Kirche haben die Erzählungen im Johannesevangelium eine besondere symbolische Bedeutung für die Ekklesiologie der johanneischen Gemeinde: "Ein Hirte und die Schafe" oder die "Erzählung vom Weinstock". Sie werden so gedeutet, dass es keine Unterscheidung durch Ämter oder Hierarchien gibt, stattdessen betont die charismatische Gemeinde die Gabe der heiligen Geistkraft, aus der auch eine besondere, emotionale Spiritualität erwächst, etwa indem Jesus Christus mit dem Bild des Wassers als Quelle des Lebens assoziiert wird, das als Symbol für Femininität gilt, dem wichtigsten Symbol überhaupt. "Das Johannesevangelium erschüttert das Patriarchat in seinen Grundlagen. Es ist ein Generalangriff auf seine Axiome, Sexismus, Separatismus, Dualismus [...] Das Johannesevangelium widerlegt und überwindet jeden Dualismus von Körper und Geist." In ihm ist Personales, Kommunikatives, Ganzheitliches zu finden.

In der Gemeinde, in der das Johannesevangelium entstand, steht die Auseinandersetzung zwischen Schriftgelehrten und Christusanhängern häufig im Mittelpunkt. Die Schriftgelehrten halten sich nur an die Vorschriften und an die Amtsautorität, die Letzteren aber an die charismatische Autorität, die durch Unmittelbarkeit und Sprachmächtigkeit charakterisiert ist.

Bis heute hat die christliche Tradition übermäßig die Sündhaftigkeit des menschlichen Wesens betont. Man muss aber, wie der anglikanische US-Theologe Matthew Fox sagt, der "ursprünglichen Segnung" mehr Bedeutung als der ursprünglichen Sünde zumessen. Das bedeutet nicht, die Erbsünde im Ganzen zu verneinen, wohl aber, ins Bewusstsein zu heben, dass in der Geschichte der Kirche die Betonung der Sündhaftigkeit der Untermauerung einer zweifelhaften kirchlichen Autorität diente und damit letztlich die Würde von Frau und Mann - zusammen mit deren Bewusstsein ihres eigenen ursprünglichen Gutseins - untergraben hat. Es ist einen Versuch wert, das wieder zu entdecken, was wir verloren haben.

Die Geschichte des über die Frau herrschenden Mannes und die Geschichte des über die Natur herrschenden Menschen kann nicht das wahre Bild der Schöpfung sein. Deshalb lohnt es sich, auf der Suche nach einer alternativen christlichen Gemeinschaft die johanneische Tradition wieder zu bedenken. Für die feministische Theologie ist insbesondere die Wiederbeachtung ihrer lebendigen, materialisierten Spiritualität bedeutsam. Ich schlage den Bogen zum gegenwärtigen Diskurs der koreanischen feministischen Theologie, die eine Theologie der Wiedervereinigung ist.

Doch zunächst noch eine allgemeine Bemerkung über Theologie in Asien an sich: Für sie ist die Verletzlichkeit Jesu von zentraler Bedeutung. "Dann sagt [Jesus] zu Thomas: Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: 'Mein Herr und mein Gott!'"

Es war Thomas, der die Wunde Jesu berühren musste, um den auferstandenen Jesus überhaupt erkennen zu können. Sei es aufgrund der Verzweiflung, Enttäuschung oder aus vernunftgesteuertem Misstrauen: zunächst konnte er nicht glauben, dass Jesus auferstanden war. Doch durch das Berühren wurde ihm die Verwundbarkeit Jesu "begreiflich", erst jetzt konnte Thomas an den auferstandenen Jesus glauben und sein Bekenntnis ablegen.

Mag sein, dass dieser Thomas nach Asien kam, um das Evangelium zu verkündigen, jedenfalls erzählt eine Legende davon. Mag sein, dass dadurch die Verletzlichkeit dort ihre besondere Bedeutung gewonnen hat.

Dies hat sie auch in der koreanischen Feministischen Theologie, die sich mit verschiedenen realen Verletzungen auseinandersetzt - so auch unter dem Thema "Wiedervereinigung und Versöhnung".

Im Gegensatz zu Deutschland hat es Korea noch nicht geschafft, sich wiederzuvereinigen. Zum zwanzigsten Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung stattete eine EKD-Delegation sowohl Nord- als auch Südkorea einen Solidaritätsbesuch ab.

Die Demarkationslinie zwischen den beiden Teilen Koreas durften die Delegierten nicht überqueren. Um von Pjöngjang nach Südkorea zu kommen, mussten sie den Umweg über Peking nehmen. Erst dann konnten sie die Grenze vom Süden aus betrachten. Bei diesem Besuch sagte der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, die Deutschen hätten die Wiedervereinigung aus Gnade erreicht, obwohl sie sich keineswegs so sehr danach gesehnt hätten, wie es die Koreaner tun.

Ja, es stimmt, wir sind immer noch mit der von Johannes inspirierten ganzheitlichen Theologie unterwegs, um die gegenseitige Versöhnung anzubahnen. Das ist immer noch sehr schwierig, denn in Korea ist der Kalte Krieg nie zu Ende gegangen. Auf der koreanischen Halbinsel herrscht seit 1953 ja nur ein Waffenstillstand. Der Krieg der Ideologien scheint alle Annäherungen immer wieder aufs Neue zunichte zu machen. Da ist es kein Trost, dass auch andernorts, zum Beispiel im deutschsprachigen Raum, schwarzweiß gemalt wird. Gewiss, dort hat der Krieg der Ideologien ein Ende gefunden, und das ist ein Glück. Aber dennoch gibt es dort so etwas wie einen mentalen Krieg: gegen Andersdenkende, Andersgläubige, anders Aussehende.

Theologie ist kontextuell

Keine Theologie ist kontextfrei. So gewinnen zum Beispiel multi-rassische, multi-religiöse, multi-kulturelle Themen für Korea zunehmend an Bedeutung, weil sich die einst eher homogene Gesellschaft Koreas durch Migration verändert hat. Aber die Frage einer Wiedervereinigung beschäftigt uns nach wie vor noch stärker. Dabei lässt sich die Suche nach einer Antwort von anderen Vorstellungen leiten, als es amerikanische Vorgaben wollen. Für die Vereinigten Staaten liegt Nordkorea wegen seiner nuklearen Waffen und der damit drohenden Massenvernichtung im Zentrum militärischer Aufmerksamkeit. Doch die Dämonisierung Nordkoreas als Teil der "Achse des Bösen" zerstört den Friedensprozess zwischen beiden Koreas. Die nukleare Abrüstung, die vom Norden gefordert wird, sollte ebenso für alle anderen Nationen gelten - einschließlich der USA. Die Teilung Koreas ist nicht nur eine Tragödie für viele Menschen in Korea, sondern auch ein Hindernis für den Weltfrieden.

Eine andere wichtige Aufgabe der Feministischen Theologie in Korea liegt im Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit in Kirche und Gesellschaft. Nur auf den ersten Blick ist dies ein ganz anderes Thema als das der Wiedervereinigung. Auf den zweiten Blick erweist sich, dass der Kampf um Frieden durch eine alternative Wiedervereinigung und der Kampf um Gerechtigkeit in der Genderfrage zusammengehören. Denn auch die Genderfrage ist eine Machtfrage: Die hegemoniale männliche Dominanzkultur (sie ist nicht nur biologisch zu verstehen) verhindert das friedliche Zusammenleben - in Korea und anderswo.

Im Westen, und nicht nur dort, dominiert immer noch eine männlich geprägte Theologie. Sie neigt dazu, die Erfahrungen anderer Hemisphären zu ignorieren oder sie als voraufklärerische, mit einem Entwicklungsrückstand behaftete Phänomene herabzusetzen. Sie korreliert allzu gut mit der christlich-kapitalistisch geprägten Konzentration auf das Selbst und die eigene Gruppe und hat somit mit einer autoritären Machtstruktur zu tun, die auf Kontrolle basiert und ein Anderssein in jeglicher Form kaum akzeptieren kann. Der offene Blick auf alternative Theologien aus anderen Erdteilen könnte aber die selbstgerechte Schultheologie zur Besinnung bringen. Ein ernsthafter und offener Austausch zwischen Menschen wirkt als gegenseitige Bereicherung. Im Spiegel des Andersseins lässt sich nicht nur das Fremde neu entdecken, sondern auch das Selbst - auch eine Voraussetzung für die Vernetzung bei gemeinsamen ethischen Aufgaben. Die komplexe Erfahrung, die Korea mit Kolonialismus, Post-Kolonialismus und dem Ideologiekonflikt des vorigen Jahrhunderts gemacht hat und die sich in seiner Theologie spiegelt, könnte Denkanstöße für Versöhnung und eine Transformation der Welt zu einer wirklichen Weltgemeinschaft schaffen.

Die Welt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant geändert, und sie tut es im Zuge der Globalisierung mit zunehmendem Tempo auch weiterhin. Längst lässt sich nicht mehr so ohne Weiteres definieren, wo die Peripherie und wo das Zentrum der Entwicklung ist. Die Fließrichtung der Kräfte lässt sich nicht mehr eindeutig bestimmen. Eines aber bleibt gegen alle Machtstrukturen und gegen alle Bemühungen, neue monolithische Blöcke welcher Art auch immer zu schaffen, festzuhalten: Die durchgehende Eigenschaft der Menschen und der Welt ist die der Verletzlichkeit. Die Stimme Jesu, der auf seine Wunde weist, der uns und unsere Mitgeschöpfe in einem "Leben in Fülle" erhalten möchte, ruft uns in die Nachfolge und ermuntert uns, dies zu erkennen und danach zu handeln.

Meehyun Chung

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