Luther und Juden

Neue Erkenntnisse
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Ein guter und gewichtiger Beitrag, sehr lohnend zu lesen. Gerade wenn Toleranz zum Thema wird, muss die Intoleranz des Reformators thematisiert werden.

Im Rahmen der "Lutherdekade" wurde für 2013 das Thema "Reformation und Toleranz" gesetzt. Das ist in der Tat eine Herausforderung, denn die Reformation steht dezidiert nicht für Toleranz. Der Historiker Heinz Schilling hat nun dazu aufgerufen, die Reformatoren ganz und gar in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen und keine Linien zu heute zu ziehen. Gerade beim Thema Antijudaismus wird das schwer fallen. Schilling sagte im November in einem Radiointerview mit dem Deutschlandfunk: Es "wird herausgearbeitet, wo Luther intolerant war, dass er gar nicht tolerant im heutigen Sinn sein konnte, und so weiter und so fort. Eine komplexe, komplizierte Argumentation. Die ist von den Politikern und von den Bischöfen abgelehnt worden, weil man sich offensichtlich nicht auf das Sperrige bei Luther einlassen will." Da steht nun der Historiker, der Luther im Kontext seiner Zeit sehen will, und hier stehen die heute Verantwortlichen, die fragen müssen, wie der historische Luther und unser Kontext in eine konstruktive Verbindung zu bringen sind. Ein interessantes und durchaus kreatives Spannungsfeld.

Für diese Diskussionen ist es außerordentlich hilfreich, dass der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann einen Band zu Luthers "Judenschriften" veröffentlicht hat. Eindrücklich wird deutlich, wie Luthers Schrift von 1523 "Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei" einen "veränderten Umgang mit den Juden nahelegte". Dabei macht Kaufmann unmissverständlich klar, dass dieser Umgang zwei Ziele hatte: zum einen die Bekehrung der Juden, zum anderen den Nachweis, dass dem Papsttum die Schuld zuzuschreiben sei, dass es keine breite Bekehrung von Juden zu Christus gab.

In einer eindrücklichen Darstellung der zeitgenössischen Diskussion ordnet Kaufmann Luthers Äußerungen in ihren Kontext ein, etwa mit Blick auf die Flugschrift "Von einer grossen Menge und Gewalt der Juden". Dialogversuche, apokalyptische Vorstellungen, Ängste und Prognosen werden deutlich. Dass das Judentum als "geheimnisvolle, bedrohliche Macht" gesehen wurde, zeigt sich in Textbeschreibungen ebenso wie das jüdische Ringen um Anerkennung - auch ablesbar an der offenbar positiven Resonanz, die Luthers Schrift von 1523 im zeitgenössischen Judentum fand. Es stellt sich heraus, wie sehr die Frage nach dem Verhältnis Judentum-Christentum im 16. Jahrhundert auf der Tagesordnung war. Und es ist für Lutheraner ernüchternd, wenn Kaufmann betont, dass Luther mit seinen antijüdischen Schriften "in einem direkten Gegensatz zur Forderung Papst Pauls III., den Juden mit Toleranz zu begegnen", stand.

Dass der Kirchenhistoriker den inneren Zusammenhang der drei späten "Judenschriften" darin sieht, dass Luther nun nicht mehr um die Bekehrung der Juden rang, sondern die christliche Gemeinde vor Juden schützen wollte, ist eine bedrückende Erkenntnis. Beim Lesen bleibt die Spannung, dass er einerseits so sehr die Kontinuität in Luthers Denken betont, andererseits hier doch eine ganz offensichtliche Diskontinuität besteht.

Im Vorwort erklärt Kaufmann, auch der Wittenberger Reformator, der weit mehr am Pranger stehe als etwa Erasmus von Rotterdam oder Martin Bucer, die sich auch nicht gerade als "Judenfreunde" gezeigt hatten, habe ein Recht darauf, "daß man ihn zu 'verstehen' versucht". Dazu fehlt mir neben der historischen Einordnung ein intensiverer theologischer Zugang. Die Christologie allein zu nennen und anzudeuten, Luther habe im Judentum einen "kontradiktorischen Gegensatz zum Rechtfertigungsglauben" gesehen, bringt noch keinen theologischen Tiefgang. Dass im Anhang darauf eingegangen wird, Luther habe vielleicht zweimal eine persönliche Begegnung mit Juden erlebt, wäre zudem ein eigenes Kapitel wert. Das hätte sich der Frage widmen können, warum das vermeintliche und reale Wissen über Juden und Judentum derartige Abwehrreflexe auslösen konnte. Allein der "irregeleitete Theologieprofessor" Luther kann das nicht erklären.

Ein Manko des Buches ist zudem, dass es auf jeder Seite einen ungeheuer großen Anmerkungsapparat gibt. Auf vielen Seiten überschreiten die Anmerkungen deutlich den Fließtext, und die Lesende fragt sich, warum. Soll damit eine hochrenommierte Wissenschaft dokumentiert werden? Ist aber eine breitere Rezeption gewünscht, scheint ein solches Vorgehen nicht hilfreich. Wenn es beispielsweise interessant und wichtig erscheint, dass ein Mann namens Martin Luther als Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes an der "Wannseekonferenz" teilnahm, kann das doch im Text ausgeführt werden, statt in einer mühsam zu lesenden, mit Kleinstverweisen versehenen Fußnote. Ansonsten wäre die Information im Fließtext entbehrlich geblieben.

Lesbarkeit gewinnen könnte das Buch durch weniger massive Fußnotenbelege und Absicherung. Und das Verständnis könnte vertieft werden, indem nicht nur die historische, sondern gleichermaßen die theologische Entwicklung im Blick ist. Was Letzteres betrifft: Die Kirche, die sich nach Luther benennt, könnte mit dem Text von 1523 doch wesentlich besser leben als mit dem Text von 1543. Ob das, was sich in diesen zwanzig Jahren entwickelt hat, allein auf die Enttäuschung eines alternden Mannes über mangelnden Erfolg zurückgeführt werden kann, ist fraglich. Denn auch wenn Kontinuität im Denken bei Thomas Kaufmann auf eindrückliche Weise nachgewiesen wird, zeigt sich doch eine so eklatante Diskontinuität, dass der theologische Bruch viele Fragen offen lässt. Zudem fehlt der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte ein Blick über 1945 hinaus. Dass es inzwischen sechzig Jahre jüdisch-christlichen Dialog gibt, der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, mit der Buber-Rosenzweig Medaille ausgezeichnet wurde, weil die evangelische Kirche in diesem Dialog weit über Luther hinaus gegangen ist, ist auch Teil dieser Geschichte. Gott sei Dank!

Kurzum: ein guter und gewichtiger Beitrag, sehr lohnend zu lesen. Gerade wenn Toleranz zum Thema wird, muss die Intoleranz des Reformators thematisiert werden. Sie kann im historischen Kontext wahrgenommen werden, muss aber in ihren Folgen bis hin zur Ideologie des Nationalsozialismus gesehen werden.

Thomas Kaufmann: Luthers "Judenschriften". Mohr & Siebeck Verlag, Tübingen 2011, 231 Seiten, Euro 29,-.

Margot Käßmann

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