Nach wie vor sind Veränderungen kirchlicher Strukturen in der Diskussion. Handlungsleitend sind oft genug finanzielle Defizite. Und ebenso oft stellen sich fast beiläufig Fragen nach dem theologischen Fundament und den Bildern von Kirche. Wer meint, dies sei unwichtig, unterschätzt die Dynamik von Fusionen und der Konflikte, die aus ihnen erwachsen.
In solchen Zusammenhängen hilft die Lektüre von Jan Hermelinks Veröffentlichungen, weil er die Spannungen und Widersprüche im kirchlichen Handeln und Leben als konstitutiv versteht und sie mittels des Modells der Konziliarität positiv in seine Kirchentheorie integriert. Kirche ist für ihn praktisch-theologisch eine "Organisation zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens", in der gesellschaftliche Vorstellungen als Institution und konkrete Praxis als Interaktion vermischt werden. Durchgängig beschreibt er, warum Kirche heute so ist - und eben nicht anders. Dieser stark deskriptiv und soziologisch geprägte Ansatz lässt seine Kirchentheorie zu einem Gewinn für die - im Schleiermacherschen Sinn - kirchenleitend Tätigen werden.
Es verwundert deshalb auch nicht, dass für die Kirchentheorie strukturbildend der für den Kirchenvater des 19. Jahrhunderts typische Aufbau des theologischen Studiums herangezogen wird: In der systematisch-prinzipiellen Reflexion werden in historischer Perspektive die kirchentheoretisch relevanten Informationen von der Reformation bis zur aktuellen Dogmatik dargestellt und durch soziologische Grundeinsichten ergänzt. So entsteht ein mehrschichtiges Kirchenbild. Neben dem Verständnis von Kirche als Organisation durch ihre Ordnung tritt die volkskirchliche Pluralität als Merkmal der Institution der Freiheit. Ergänzt werden beide Elemente durch die Hinweise auf die Vielfalt religiöser Interaktion und die öffentlich inszenierte Erkennbarkeit des christlichen Glaubens und Lebens.
Zu diesem Kirchenbild gehört die Dynamik aus Beobachten und Beobachtetwerden - Hermelink spricht deshalb von reflexiver Sozialität, in der die theologische Selbstbeschreibung für die Steuerung der Organisation genutzt werde, um erkennbar und anschlussfähig zu bleiben.
Daran anknüpfend stellen zwei historisch-empirische Kapitel die Typen kirchlicher Organisation dar und betrachten exemplarisch zwei Bedingungen der gegenwärtigen Organisation "Kirche", deren Mitgliedschaftsbedingungen und finanzielle Verfassung. In der Typologie lässt sich erkennen, wie bestimmte Elemente kirchlichen Lebens zum Beispiel Mitgliedschaftsverhältnisse oder auch die Institution des Kirchenvorstandes Einzelaspekte eines Typs in sich aufnehmen und in das Kirchen- oder besser Gemeindebild integrieren. Gerade der Begriff der Gemeinde tritt so als normative und strukturelle Beschreibung kirchlichen Lebens hervor, in dem geschichtliche Entwicklung und aktuelle Anpassung zueinander finden müssen.
Schließlich mündet Hermelink mit seiner Kirchentheorie ganz im Sinne Schleiermachers in einer Reflexion kirchlicher Leitungspraxis und ihrer Probleme. Er wendet sich der sich seit den Neunzigerjahren entwickelnden Kirchenreform zu, die die Frage von Leitung und Steuerung durchzieht. Es geht Hermelink weniger um das Wie, sondern vielmehr um das Wozu, um die Orientierung und die Kriterien von Leitung. Als Kern kirchlicher Leitungsaufgabe sieht er deshalb die "konziliare Inszenierung" von Konflikten an, die biographisch, sozial oder politisch bedingt sind. Als Beispiel hierfür mag das Kriterium maximaler Partizipation bei der Leitungsaufgabe dienen, das immer wieder mit dem Erfordernis geordneter Delegation auszugleichen ist.
Das Buch stellt einen unverzichtbaren Beitrag zu einem vertieften Verständnis kirchlichen Leitungshandelns dar, auch wenn man sich mehr kirchenkritische Töne wünschen würde.
Jan Hermelink: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 328 Seiten, Euro 29,95.
Jens Beckmann
Jens Beckmann
Dr. Jens Beckmann ist Pastor der Nordkirche und Theologischer Vorstand der Evangelischen Perthes-Stiftung e.V. in Münster.