Ende der Dienstgemeinschaft?
Es betrifft die größten Arbeitgeber in Deutschland: Caritas und Diakonie. Sie beschäftigen in über 60.000 Einrichtungen mehr als 1,3 Millionen Menschen. Verhandelt wird in Erfurt zwar nur über Klagen evangelischer Landeskirchen gegen ver.di - aber auch von katholischer Seite wird das Verfahren genau verfolgt.
Denn es geht nicht nur um das Streikverbot: Das kirchliche Arbeitsrecht, der "Dritte Weg", steht auf dem Prüfstand. Beide Seiten schließen zudem nicht aus, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Ende September hat die Diakonie in Berlin die schon länger erwartete Studie über die Arbeitsverhältnisse in ihren rund 27.000 Einrichtungen vorgestellt. Die Ergebnisse werden das Erfurter Urteil kaum beeinflussen, sind aber zur Beurteilung der Lage von Interesse. Die Diakonie kam mit der Untersuchung einem Auftrag der EKD-Synode nach. Von ihr war sie angesichts der wachsenden Kritik am kirchlichen Arbeitsrecht aufgefordert worden, Zahlen und Fakten vorzulegen.
Druck von ver.di
Die Vorwürfe lauten: Durch Ausgründungen, Leiharbeit und Rationalisierung hätten die diakonischen Arbeitgeber selbst begonnen, die christliche "Dienstgemeinschaft" zu zerstören. Damit verspielten sie die Legitimation, die Tarife nach den eigenen Regeln des "Dritten Weges" auszuhandeln, der den Arbeitskampf ausschließt. Den Beschäftigten dürfe das Druckmittel des Streiks nicht länger vorenthalten werden, andernfalls werde "die Dienstgemeinschaft zu einem Kampfbegriff gegen die berechtigten Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" - so ver.di-Chef Frank Bsirske.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di versucht seit Jahren, unter den kirchlichen Mitarbeitern Fuß zu fassen. Bisher ist nicht einmal jeder Zehnte gewerkschaftlich organisiert. Tarifverhandlungen ("Zweiter Weg") gibt es bei den Kirchen nicht. Bei ihnen werden Löhne, Gehälter und Arbeitsbedingungen in "Arbeitsrechtlichen Kommissionen" ausgehandelt.
Dort sitzen sich Dienstgeber- und Dienstnehmervertreter gegenüber. Anstelle von Tarifverträgen handeln sie Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) aus. Einigen sie sich nicht, ist ein Schlichtungsverfahren vorgesehen, dessen Ergebnis verbindlich ist. Streiks und Aussperrungen sind verboten. Sie widersprechen der gemeinsamen Überzeugung, eine Dienstgemeinschaft zu bilden, die Wesensäußerung der Kirche und des Evangeliums der Nächstenliebe sei.
Bei der Caritas sprechen sich nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Arbeitnehmervertreter klar für die Beibehaltung des "Dritten Weges" aus. Der Sprecher der Dachorganisation der Mitarbeitervertretungen, Thomas Schwendele, hat im März dieses Jahres dargelegt, warum: Reformen hätten die Mitarbeiterseite gestärkt. Ihre Arbeit sei ausreichend finanziert; sie fühle sich stark genug, die Konflikte innerhalb des Systems zu lösen, das eine weit höhere Tarifbindung als in der übrigen Sozialbranche garantiere. Eine engere Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften sei angestrebt, ein Systemwechsel zu einem anderen Tarifsystem aber nicht.
"Stadium der Zersplitterug"
Anders das Bild bei der Diakonie. Das Arbeitsrecht befinde sich "in einem Stadium der Zersplitterung", sagte der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider auf einer Tagung in diesem Frühjahr.
Es gibt zu viele arbeitsrechtliche Kommissionen und zu viele Tarife. Dienstnehmer- und Dienstgeberseite haben sich mehrfach gegenseitig blockiert. Die Rufe nach der Abschaffung des "Dritten Weges" kommen längst aus den eigenen Mitarbeitervertretungen. Unterdessen hat sich die Arbeitgeberseite professionalisiert und sich im Verband der diakonischen Dienstgeber Deutschlands (VdDD) organisiert. Im Ergebnis sitzt eine geschwächte Dienstnehmerseite starken Dienstgebern gegenüber.
Die Konflikte haben auch die Politik erreicht. Dem Bundestag liegt ein Antrag der Linksfraktion vor, das kirchliche Arbeitsrecht einzuschränken. Danach sollen die AVR nur noch für einen verkündigungsnahen Kernbereich gelten. Bei Caritas und Diakonie sollen hingegen normale Tarifverhandlungen stattfinden und folglich auch das Streikrecht gewährleistet sein. Die abschließende Beratung im Bundestag steht noch aus, der Antrag wird aber abgelehnt werden. Denn eins ist klar: Das Grundgesetz sichert den Kirchen die Selbstbestimmung inklusive des Arbeitsrechts zu. Die Politik kann hier nicht hineinregieren - es sei denn, sie änderte zuvor mit einer Zweidrittelmehrheit die Verfassung.
Gleichwohl haben auch die SPD und Sozialpolitiker bei den Grünen das Thema entdeckt. Denn der Konflikt um den Sonderweg der Kirchen stellt die Frage, ob soziale Arbeit noch ausreichend finanziert wird. Bei der SPD werben Otmar Schreiner vom linken Flügel und die Kirchenbeauftragte der Fraktion und EKD-Synodale Kerstin Griese für einen allgemeinverbindlichen "Branchentarifvertrag soziale Arbeit", um den Unterbietungswettbewerb in der Sozialbranche zu bremsen.
Griese, die von 2009 bis 2010 als sozialpolitischer Vorstand des Diakonischen Werkes der EKD (heute: "Diakonie Deutschland") tätig war, meint: "Die Kirchen sollten das Streikrecht akzeptieren und die Gewerkschaften sollten in den 'Arbeitsrechtlichen Kommissionen' mitarbeiten." Ihr Hauptargument ist die hohe Tarifbindung von über 80 Prozent aller kirchlichen Einrichtungen: "Dies aufs Spiel zu setzen, wäre zum Schaden der Mitarbeitenden." Die Zuspitzung des Konflikts auf das Streikrecht sei "wenig hilfreich".
Ausgleich gesucht
In diese Gemenge- und Interessenlage hinein fällt nun das Erfurter Urteil. Erwartet wird, dass die Richter versuchen, einen Ausgleich herzustellen: zwischen dem Grundrecht der Kirchen auf Selbstbestimmung und dem Grundrecht der Arbeitnehmer, sich zu organisieren und ihre Interessen - auch durch einen Arbeitskampf - zu vertreten.
Für den Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Hans Michael Heinig, ist es indes nicht akzeptabel, wenn ein Gericht einfach den Geltungsbereich des kirchlichen Arbeitsrechts einschränkt. Das sei "Justiztheologie", kritisiert er, und stehe dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen entgegen. Das Landesarbeitsgericht Hamm hatte im Januar 2011 ein solches Urteil gefällt. Danach dürfen kirchliche Mitarbeiter streiken, die nicht im Kernbereich der Verkündigung tätig sind, sondern etwa als Reinigungskräfte oder Küchenhilfen arbeiten. Es ist eines der beiden Urteile, die zu dem Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht geführt haben.
Obwohl es den Anschein hat, sind es indes nicht die Gewerkschaften, die die Kirchen unter Druck setzen, sondern die Politik. Seit den Neunzigerjahren haben alle Bundesregierungen den Wettbewerbsdruck in der Sozialbranche erhöht. In den Krankenhäusern wurden statt der Tagessätze Fallpauschalen eingeführt, und Pflegedienste und Heime rechnen mit der Pflegeversicherung nach Minuten ab. Private Anbieter drängen auf den Markt und unterbieten die Wohlfahrtsunternehmen. Die Kosten steigen schneller als die Budgets.
Daumen runter
Die kirchlichen Arbeitgeber reagierten wie alle anderen und sparten bei den Personalausgaben. Sie führten Niedriglohngruppen ein. Es wurden Fachkräfte eingespart, mehr Hilfskräfte beschäftigt, die Arbeit verdichtet. Küchen, Kantinen, Wäschereien, Hausmeister- und Putzdienste wurden in Servicegesellschaften umgewandelt, um die Beschäftigten nach den niedrigeren Tarifen des Gaststätten-, Gebäudereinigungs- oder Sicherheitsgewerbes bezahlen zu können.
Diese Entwicklung ist unstrittig. Heftig gestritten wird aber über ihr Ausmaß. Dazu liegen inzwischen zwei Studien über die Diakonie vor, die der Diakonie selbst und eine weitere der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung. Sie sind nicht vergleichbar und kommen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Beide sind überdies nicht repräsentativ.
Die Böckler-Studie beruht auf Befragungen von knapp dreihundert Mitarbeitervertretungen in diakonischen Einrichtungen und vierzig Interviews mit Arbeitnehmervertretern. Ergänzend zogen die Forscher ältere Umfragen sowie Selbstdarstellungen diakonischer Unternehmen heran. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Ausgliederungen "flächendeckend verbreitet" und der - auch dauerhafte - Einsatz von Leiharbeitern "übliche Praxis" seien. Auch bei der Bezahlung geht der Daumen runter: Die früher weitgehend einheitliche Orientierung am Bundesangestelltentarif sei aufgegeben worden. Viele verschiedene AVR ermöglichten es den diakonischen Einrichtungen heute, dagegen den jeweils niedrigsten Tarif anzuwenden.
Kirchen- und Branchentarif
Ganz anders die Ergebnisse der Diakonie-Studie. Ihr liegen drei Einzelbefragungen bei der Diakonie Deutschland, der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und von Mitgliedseinrichtungen des diakonischen Arbeitgeberverbands VdDD zugrunde. Von insgesamt 4840 Trägern nahmen 3197 an der Erhebung teil. Sie beschäftigen 380.000 von rund 453.000 Mitarbeitern in der Diakonie. Die Datenbasis ist damit insgesamt erheblich breiter als die der Böckler-Studie. Zu einzelnen Fragen machte aber jeweils nur ein Teil der Träger Angaben, was die Ergebnisse teils stark relativiert.
Auf eine der zentralen Fragen nach dem Outsourcing antworteten 2725 Träger. 8,6 Prozent gaben an, Betriebsteile ausgegliedert zu haben. Am häufigsten wird die Hauswirtschaft in Service-GmbHs organisiert. Von 457 ausgegliederten Betriebsteilen, über die die Studie Auskunft gibt, waren 207 für Verpflegung, Reinigung, Putzdienste oder die Wäscherei zuständig.
Nur die Hälfte der GmbH-Mitarbeiter wird nach Kirchentarifen bezahlt, die anderen arbeiten überwiegend zu den niedrigeren Branchentarifen. Diese Angabe beruht allerdings nur auf 119 Antworten. Je nach Region arbeiten zwischen 4,6 Prozent der Mitarbeiter (Diakonie Deutschland) und 7,5 Prozent (westfälische Diakonie) in solchen Servicegesellschaften. Das wären deutlich weniger als nach den Ergebnissen der Böckler-Studie. Die mittlere Lohnuntergrenze in den ausgegliederten Betriebsteilen liegt bei 8,41 Euro pro Stunde. Das heißt, die Hälfte aller Träger zahlt im untersten Lohnsegment wenigstens 8,41 Euro, bei der anderen Hälfte liegen die niedrigsten Stundenlöhne darunter.
Ein "attraktiver Arbeitgeber"
Leiharbeit ist der Studie zufolge in der Diakonie nicht verbreitet. 14,2 Prozent der 2628 Träger, die auf diese Frage antworteten, setzen Zeitarbeiter ein. Das entspricht zwischen 1,1 und 1,3 Prozent der Beschäftigten, je nach Region, und ist weniger, als von ver.di behauptet wird. Zwei Prozent der Leiharbeiter waren länger als zwölf Monate beschäftigt. "An diese zwei Prozent wollen wir ran", sagte Diakonie-Vorstandsmitglied Jörg Kruttschnitt. Der Bundesverband wolle ersetzende Leiharbeit ganz unterbinden, erklärte er.
Wenig Leiharbeit, mehr Ausgründungen - da das Ergebnis nicht repräsentativ ist, wie auch der Diakonie-Präsident einräumt, kann es nur als relativ gesicherte Tendenz gelten. Gleichwohl, so Johannes Stockmeier, brauche sich die Diakonie hinter den Ergebnissen nicht zu verstecken. Sie sei "ein attraktiver Arbeitgeber". Die Tageszeitung Die Welt formulierte weniger euphorisch: "Die Diakonie ist besser als ihr Ruf - und schlechter als ihr Anspruch".
Wenig wahrscheinlich ist, dass die Datensammlung das Ansehen der Diakonie als Arbeitgeber heben kann. "Die Grundaufstellung ist defensiv", bilanzierte der Kirchenrechtler Heinig unlängst. Das hat auch die EKD nach ihrer Magdeburger Synode 2011 erfahren, auf der sie den "Dritten Weg" samt Streikverbot bekräftigte, aber die Diakonie auch dazu aufforderte, Missstände abzustellen und ihre Mitarbeitervertretungen zu professionalisieren. Öffentliche Beachtung fanden nur das Streikverbot und die ver.di-Demonstration auf dem Domplatz.
Auswüchse bekämpfen
Beiden Kirchen ist bewusst, dass sie ihr Arbeitsrecht nur verteidigen können, wenn sie ihm selbst wieder zu Anerkennung verhelfen, indem sie Auswüchse bekämpfen, die Lohnfindung verbessern und die Tarifstrukturen transparenter machen. "Die Kirche hat die Pflicht, die Dienstgemeinschaft zu plausibilisieren", sagt Heinig.
Auf katholischer Seite hat man die Formel gefunden: "Entweder ganz katholisch oder ganz weltlich." Bis 2013 müssen alle Einrichtungen erklären, ob sie sich an die Grundordnung halten oder im Arbeitsrecht eigene Wege gehen und aus dem Caritasverband ausscheiden wollen.
Der EKD -Ratsvorsitzende Schneider sieht es für die evangelische Kirche ähnlich: Der Kostendruck im Sozialwesen könne dazu führen, "dass wir Angebote nicht mehr aufrechterhalten können und wollen, wenn es den Einrichtungen unmöglich gemacht wird, Gehälter nach den kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen zu zahlen".
Bettina Markmeyer