Etwas ratlos habe ich das Zinzendorfbuch des Leipziger Professors für Praktische Theologie Peter Zimmerling nach der Lektüre wieder aus der Hand gelegt. Denn dieses Buch enthält auf der einen Seite durchaus viel Neues und Instruktives, auf der anderen Seite aber auch viel Irritierendes.
Richtig ist Zimmerlings Annahme, Zinzendorfs Beiträge zur Praktischen Theologie hätten bislang viel zu wenig Beachtung gefunden. Alle wichtigen Aussagen Zinzendorfs zum weiten Feld der praktischen Theologie werden deshalb in neun Kapiteln erörtert und mit Hilfe von zahlreichen Originalzitaten belegt: Das, was er zur Predigt zu sagen hat, seine liturgischen "Neuschöpfungen", seine Anregungen für den Gemeindegesang, sein Engagement als Seelsorger, seine Rolle als Katechet, seine Impulse für den Gemeindeaufbau, sein Verständnis des geistlichen Amts, seine persönliche Spiritualität und sein "liebstes Kind", die Losungen. An vielen Stellen wird das, was man bisher über Zinzendorf weiß, auf bemerkenswerte Weise erweitert. Ohne Zweifel schließt das Buch somit eine Forschungslücke.
Buch schließt Forschlungslücke
Erstaunt nimmt man als Leser aber zur Kenntnis, dass Zimmerling selbst nur etwa die Hälfte des Buchs geschrieben hat. Wichtige Kapitel stammen von Dietrich Meyer und Peter Vogt. Durchaus störend ist es, dass die Aussagen von Meyer und Vogt auf der einen und Zimmerling auf der anderen Seite nicht immer übereinstimmen.
Zimmerling bezeichnet Zinzendorfs religiöse Sprache in der "Sichtungszeit", also in den 1740er Jahren, als seine "genialste Phase", nach Meyer führten diese Sprachschöpfungen "die Gemeine in die größte Gefahr eines unbiblischen Schwärmertums". Nach Zimmerling verwendete Zinzendorf in seinen Predigten viele Fremdwörter, um "Eindeutigkeit im Ausdruck zu erzielen", nach Meyer mochten sich "Insider" an Zinzendorfs Sprachreichtum erfreuen, für "Outsider" sei seine Sprache "nur schwer verständlich gewesen".
Während Meyer und Vogt das, was sie über Zinzendorf zu sagen haben, auf eine gut verständliche und klare Weise formulieren, bemüht sich Zimmerling, ihn heutigen Lesern mit Hilfe von Wörtern aus der Alltagssprache nahe zu bringen. Einige Beispiele: Zinzendorf spielte für Zimmerling "in einer ganz anderen Liga" als die meisten Prediger seiner Zeit; Predigten dürften nach Zinzendorf "nicht zur frommen Skalpjagd ohne Rücksicht auf ihre Konsequenzen entarten"; als "Bibel light" seien die Losungen Zinzendorfs originellste und folgenreichste Erfindung gewesen.
Er schneidet wichtige Fragen an, ohne diese aber so gründlich und so umfassend zu diskutieren, wie diese es verdient hätten. Denn eine Übertragung des Herrnhuter Modells auf Gemeinden in der heutigen Zeit wäre selbst, wenn man sie in Angriff nehmen würde, äußerst schwierig, ganz abgesehen davon, dass sich das religiöse Leben in Herrnhut von den Anfängen in den späten 1720er Jahren bis zu Zinzendorfs Tod im Jahre 1760 nicht zuletzt auf Zinzendorfs Initiative hin immer wieder änderte.
Aus Kirche gelöst
Ein Letztes: Nicht zutreffend scheint mir auch der Titel des Buchs. Zinzendorf schuf eine besondere Form einer internationalen, missionarisch tätigen christlichen Gemeinschaft. Die Kirche, jedenfalls die Kirche nach dem Verständnis der Kirchen seiner Zeit, war für ihn kein Vorbild, im Gegenteil. Durchaus konsequent löste er sich vielmehr von der Kirche und versuchte auf seine Weise, zusammen mit den Menschen, die sich ihm anschlossen, ein Leben in der Nachfolge Jesu Christi zu führen und das Christentum zu erneuern. Darin liegt seine eigentliche Leistung.
Peter Zimmerling: Ein Leben für die Kirche. Zinzendorf als praktischer Theologe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 226 Seiten, Euro 16,90.
Hartmut Lehmann