Wie hältst du’s mit methodischer Sorgfalt?

Die bisherige Kritik an der Auswertung der 6. KMU ist verfehlt
Eingangsbereich des EKD-Gebäudes in Hannover
Foto: epd
Blick zum Himmel vor dem Kirchenamt der EKD in Hannover-Herrenhausen.

Drei namhafte Theolog:innen kritisierten die Methodik und Grundannahmen der 6. KMU, der sechsten EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, gleich am Tage des Erscheinens in zeitzeichen. Ihnen widersprechen nun drei EKD-Verantwortliche für den Auswertungsband, zwei Theolog:innen und ein Soziologe, entschieden.

Die von Reiner Anselm, Kristin Merle und Uta Pohl-Patalong auf zeitzeichen.net und in der Dezember-Ausgabe von zeitzeichen vorgetragene Argumentation gegen die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (6. KMU) lautet kurz gesagt so: Die veröffentlichten Befunde seien „fatal“ für notwendige Reformanstrengungen der Kirche, weil sie zu einem resignativen Rückzug auf ein immer kleiner werdendes Milieu von Hochreligiösen führen könnten, um weiter „in den vertrauten Formen“ arbeiten zu können. 

Deshalb sei eine Umdeutung der Befunde zu empfehlen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Religiosität entgegen den Erkenntnissen der 6. KMU gar nicht abnehme, sondern sie lediglich ihre Form verändere. Das wird dadurch erreicht, indem der 6. KMU religionstheoretische „Vorannahmen“ unterstellt werden, die ihre Ergebnisse determiniert hätten. Unter Berufung auf „methodische Redlichkeit“ wird schließlich implizit angeraten, Befunde der 6. KMU zu ignorieren und stattdessen bei Annahmen zu bleiben, die nach Meinung der Autor:innen kirchenpolitisch opportun seien.

Dagegen ist einzuwenden: Erstens sollten unsere Wünsche, was wir für ein kirchenpolitisch opportunes Ergebnis halten, keinen Einfluss auf die tatsächlichen Ergebnisse einer empirischen Studie haben. Sonst lügen wir uns selbst in die Tasche! Die Analyse und Interpretation der Daten darf nicht durch eigene kirchenpolitische Vorstellungen manipulativ überformt werden. Vielmehr gilt es, sich schonungslos der sozialen Realität zu stellen. Welche kirchenpolitischen Handlungsoptionen aus Befunden erwachsen, ist erst in einem zweiten, davon strikt unabhängigen Schritt zu fragen; es darf nicht bereits in die Analyse und Interpretation von Daten mit einfließen. Anselm et al. Vermengen diese beiden Ebenen.

Innovative Reformprozesse

Zweitens folgt aus den Befunden der 6. KMU nicht, dass die Kirche weiter „in den vertrauten Formen arbeiten“, sich auf ein kleines hochreligiöses Milieu zurückziehen oder resignieren sollte. Solche Schlussfolgerungen werden in der 6. KMU an keiner Stelle gezogen. Alle, die die Studie selbst gelesen haben, wissen, dass die Überlegungen der 6. KMU zu kirchlichen Handlungsoptionen, die an die Befunde anschließbar sind, in eine genau gegenteilige Richtung gehen und auf innovative Reformprozesse mit möglichst großer gesellschaftlicher Reichweite hinauslaufen.

Drittens hat die 6. KMU die von Anselm et al. unterstellten theoretischen „Vorannahmen“ in Wirklichkeit gar nicht getroffen. Die empirischen Ergebnisse der 6. KMU hätten auch ganz anders ausfallen können und wurden nicht durch „Vorannahmen“ quasi vorweggenommen. Leider muss konstatiert werden, dass die konkrete Methodik der 6. KMU von Anselm et al. in vielfacher Weise unzutreffend und irreführend dargestellt wird. Gleichzeitig sind die von Anselm et al. vorgeschlagenen „alternativen“ Auswertungen mit einschlägigen methodischen Standards empirischer Sozialforschung so nicht vereinbar. Das wird nachfolgend anhand von Beispielen belegt. Es geht also nicht nur um eine andere „Lesart“ oder „Deutung“ an sich unstrittiger Daten, sondern darum, was methodisch korrekt oder fehlerhaft ist.

Anselm et al. behaupten viertens, alle Fragen der KMU seien vom KMU-Beirat entworfen worden, „um das Verhältnis von Menschen zur Kirche zu erkunden, nicht um daraus ein Panorama der Religiosität von Menschen zu gewinnen“. Ausführungen zur Religiosität seien erst im Nachhinein anhand von dafür gar nicht entwickelten Items getroffen worden. Das ist nachweislich falsch. Tatsächlich war es von vornherein das Anliegen der Konzeption der 6. KMU, verschiedene Dimensionen von Religiosität umfassend zu erheben und sich nicht nur auf Kirchlichkeit zu beschränken. Dazu wurde eine eigene Arbeitsgruppe „Religiosität“ eingesetzt, die eine sehr große Zahl von möglichen Fragestellungen zur Erfassung von Religiosität erarbeitete. In einem methodisch aufwändigen Prozess (unter anderem Interviews mit 124 repräsentativ ausgewählten Befragten in einem Vortest) wurden sie auf ihre Verständlichkeit und Tauglichkeit geprüft und in einem transparenten Auswahlverfahren vom wissenschaftlichen Beirat der KMU schließlich im Konsens in den Fragebogen aufgenommen.

Unspezifische Aussagen

Insofern kann keine Rede davon sein, die erfolgte Typenbildung der Religiosität sei nicht geplant gewesen oder anhand von Fragen erfolgt, die ursprünglich für diesen Zweck nicht entwickelt worden seien. Bereits im Vortest als ungeeignet erwiesen sich allerdings unspezifische Aussagen der Art, wie sie jetzt wieder von Anselm et al. vorgeschlagen werden (zum Beispiel „Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir erfassen können“), weil sie bei vielen Befragten Unverständnis („Was meinen Sie damit?“) oder Antwortverweigerungen („Kann ich nicht sagen“) erzeugten.

Die Zahl der im endgültigen Fragebogen verbleibenden Items im Assoziationsfeld von Religiosität war immer noch sehr hoch (etwa 100). In den Antworten auf diese Fragen wurde ergebnisoffen mit etablierten statistischen Verfahren nach Strukturmustern gesucht: Was hängt empirisch mit was zusammen? Es zeigte sich, dass es bei den Befragten ein Antwortmuster gab, das Formen der Religiosität miteinander verband, die typischerweise im Sozialraum der Kirchen auftreten („kirchennahe Religiosität“), sowie ein anderes Antwortmuster, bei dem Befragte Zustimmung zu verschiedenen konkreten Aussagen kombinierten, die inhaltlich als „kirchenferne Religiosität“ eingeordnet werden können. Keinerlei „religionstheoretische“ oder gar „säkularisierungstheoretische“ Annahmen flossen dabei ein. Es hätten sich bei diesem methodischen Vorgehen auch andere Antwortmuster ergeben können.

Aus jeweils fünf Items, die nach diesem empirischen Befund statistisch im Zentrum dieser Antwortmuster standen, also das Vorliegen von „kirchennaher“ beziehungsweise „kirchenferner“ Religiosität am besten anzeigten, wurden Indices gebildet. Die daraus abgeleiteten „Religiositätstypen“, die kirchennahe und kirchenferne Religiosität in unterschiedlicher Weise miteinander kombinieren, wurden durch das statistische Verfahren der Clusteranalyse empirisch ermittelt – und nicht, wie Anselm et al. fälschlich behaupten, durch Faktorenanalysen, religionstheoretische Setzungen oder eine Übernahme aus einer anderen Studie (was im Übrigen schon in sich widersprüchliche Behauptungen sind).

Hervorragender Indikator

Konkret wird dann von Anselm et al. zum Beispiel kritisiert, dass unter anderem die Zustimmung zur Aussage „Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“ in den Index für „kirchennahe Religiosität“ mit eingeflossen ist, weil „vermutlich auch nicht alle kirchlichen Haupt- und Ehrenamtlichen ihre Glaubensvorstellung so formulieren würden“. Der empirische Befund ist aber: 95 Prozent der Kirchlich-Religiösen stimmten dieser Aussage zu, damit ist sie ein hervorragender Indikator für kirchennahe Religiosität. Dass dies „nicht alle“ tun oder die Formulierung möglicherweise nicht den theologischen Ansprüchen von Anselm et al. genügt, kann in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage kein Kriterium sein.

In ähnlicher Weise wird dann bei der „kirchenfernen Religiosität“ von Anselm et al. moniert, dass darin unter anderem Items zu „parareligiösen Vorstellungen“ mit eingegangen sind. Wiederum gilt: Wenn sich empirisch zeigt, dass diese Items das Vorliegen kirchenferner Religiosität gut indizieren (und das war der empirische Befund, keine theoretische Setzung), dann ist dies hinzunehmen, weil es der subjektiven Realitätskonstruktion der Befragten entspricht.

Übersehen wird bei der Argumentation von Anselm et al. auch, dass diese Items gar nicht den Anspruch haben, für das theoretische Konstrukt „individualisierte Religiosität“ zu stehen, denn „individualisiert“ kann Religiosität sowohl in kirchennahen wie kirchenfernen Kontexten sein. Wenn heute nur noch fünf Prozent der Kirchenmitglieder von sich sagen „Ich bin gläubiges Mitglied der Kirche und fühle mich mit ihr eng verbunden“, während die restlichen 95 Prozent individualisierten Formen der (Nicht-)Religiosität zuneigen, dann liegt als Schlussfolgerung nahe: Religiosität, wenn sie auftritt, zeigt sich heute fast nur noch in individualisierter Form. Insofern ist die Gegenüberstellung von „individualisierter“ versus „institutionalisierter“ Religiosität anachronistisch, sie ist heute kein strukturprägendes Merkmal mehr und trat insofern auch bei unserer empirischen Suche nach Strukturmustern heutiger Religiosität nicht mehr zutage.

„Gefühl heiliger Macht“

Das liegt sicher nicht daran, dass verschiedene konkrete Erscheinungsformen „individualisierter“ Religiosität untereinander nicht korrelieren würden, wie Anselm et al. vermuten. Durch die Aussage „Wer ein religiöses Gefühl beim Spaziergang durch den Wald hat, muss noch lange nicht an Wahrsagerei glauben“, wollen sie dies plausibilisieren – ohne es empirisch überprüft zu haben. Nach den KMU-Daten gibt es aber sehr wohl einen hochsignifikanten statistischen Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu „Es gibt Menschen, die durch Wahrsagen die Zukunft wirklich voraussehen können“ und „Bei manchen Naturerlebnissen hatte ich schon das Gefühl, eine heilige Macht zu spüren“. Damit ist die Annahme von Anselm et al. anhand ihres eigenen Beispiels empirisch widerlegt. Auch im kirchenfernen Bereich korrelieren verschiedene Formen von Religiosität positiv miteinander. Aus theoretischer Sicht ist dies auch nicht besonders erstaunlich, weil die „Individualisierung“ sich durch das individuelle Kombinieren von Elementen aus verschiedenen religiösen Traditionen auszeichnet, auch „Bricolage“ genannt. Das Kombinieren führt zu positiven Korrelationen.

Unzutreffend ist fünftens die Behauptung, die 6. KMU hätte nicht zureichend zwischen Religiosität und Kirchlichkeit unterschieden. Es wurde hier sehr wohl differenziert, jedoch zeigte sich empirisch (übrigens auch schon 2012 in der 5. KMU), dass es einen starken positiven Zusammenhang zwischen Religiosität und Kirchlichkeit gibt. Das ist einfach als empirisches Faktum zur Kenntnis zu nehmen und liegt nicht allein daran, was die Befragten selbst unter dem Begriff „religiös“ verstehen, weil er in vielen Fragestellungen gar nicht enthalten war. Anselm et al. schreiben: „Phänomene individualisierter Religiosität betreffen zu erheblichen Teilen solche Personenkreise, die mit kirchlich geprägter Religiosität wenig anfangen können“. Die KMU zeigt jedoch: Die „erheblichen Teile“ sind Minderheiten, und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von (auch „individualisierter“) Religiosität ist bei „kirchlich Geprägten“ viel höher als bei Kirchenfernen.

Um dem entgegenzutreten, verwenden Anselm et al. das Kriterium, ob unter insgesamt neun recht heterogenen Aussagen „mit Transzendenzbezügen“ zumindest eine zustimmend beantwortet werde. Das ist ein methodischer Fehlgriff, weil es zur Akkumulation von Messfehlern führt. Bei einer empirischen Befragung darf nicht davon ausgegangen werden, dass immer alle Fragen „korrekt“ im Sinne der Intention der Forschenden beantwortet werden. Ein gewisser Teil der Antworten ist immer durch Missverständnisse, abweichende Verständnisse der Fragestellung oder andere Gründe für fehlerhaftes Ankreuzen geprägt.

Hochgradig fragwürdig

Bei der Auswertung eines einzelnen Items ist dies oft unproblematisch, weil diese „Messfehler“ in unterschiedliche Richtungen gehen können und sich somit oft gegenseitig ausmitteln. Besser ist es allerdings, einen Mittelwert aus einer größeren Zahl von Items zu bilden, die Ähnliches erfassen, weil so eventuellen Antwortfehlern bei einzelnen Items kein so großes Gewicht mehr beikommen kann. Fatal ist aber die von Anselm et al. gewählte Methode: Tritt nur bei einem einzigen der insgesamt neun Items ein Messfehler in die Ja-Richtung auf, wird dies bereits als Beleg für „individualisierte Religiosität“ gewertet, wobei dann völlig ignoriert wird, was die Befragten bei den anderen acht Items geantwortet haben. Ein solches Vorgehen ist methodisch hochgradig fragwürdig und schwebt in der Gefahr, hauptsächlich Messfehler statt „individualisierte Religiosität“ zu erfassen.

Hinzu kommt noch, dass diese Methode in keiner Weise in der Lage ist, irgendeine Aussage darüber zu treffen, ob Religiosität (egal ob „individualisiert“ oder nicht) im Zeitverlauf nun zurückgeht oder nicht. Dazu wäre ein Vergleich zwischen zwei Zeitpunkten notwendig, den Anselm et al aber nirgends vornehmen. Auch unter den von ihnen selbst als geeignet angesehenen Items sind Zeitvergleiche teilweise möglich, und diese ergeben ausnahmslos für die letzten beiden Jahrzehnte eine Abnahme der so erfassten Religiosität. Zeitvergleiche sind entscheidend für Urteile über Zu- oder Abnahme, nicht die Religiositätstypologie oder abstrakte Diskussionen, was man unter „Religion“ verstehen wolle. Hier helfen auch Verweise nicht weiter, dass vielleicht „qualitative Methoden“ besser wären als quantitative Datenanalysen – denn eines können qualitative Methoden bei allen sonstigen Vorzügen nicht: Zuverlässige Aussagen dazu treffen, ob etwas im Zeitverlauf zu- oder abgenommen hat, dazu fehlt es ihnen an Standardisierung und Repräsentativität. Der methodische Zugang der 6. KMU ist angemessen, wenn eine empirische Antwort auf die Frage gefunden werden soll, ob Religiosität in den letzten Jahren in Deutschland abgenommen hat oder nicht.

Unzutreffend ist schließlich sechstens die Aussage von Anselm et al., die 6. KMU hätte die „Unumkehrbarkeit“ dieser Entwicklung behauptet oder dass Religion in modernen Gesellschaften „unweigerlich“ abnehme. Derartige Thesen, die theoretischer und nicht empirischer Natur sind, hat die 6. KMU bewusst strikt vermieden – und erst recht nicht vorausgesetzt. Die 6. KMU konstatiert, welche Entwicklungen in den letzten Jahren empirisch feststellbar sind, aber sie trifft keine Aussagen dazu, was „unweigerlich“ oder „unumkehrbar“ sei.

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Friederike Erichsen-Wendt

Dr. Friederike Erichsen-Wendt ist Referentin für Strategische Planung und Wissensmanagement im Kirchenamt
der EKD in Hannover.

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Johannes Wischmeyer

Dr. Johannes Wischmeyer (Jahrgang 1977) ist seit 2021 Leiter der Abteilung „Kirchliche Handlungsfelder“ im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und unter anderem zuständig für Catholica-Fragen.