„Adam war zunächst kein Mann“

Gespräch mit der Theologieprofessorin Isolde Karle über den Genderansatz in Bibel und Kirche
Foto: privat
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zeitzeichen: Frau Professorin Karle, im Schöpfungsbericht heißt es „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau.“ Würden Sie dem widersprechen?

ISOLDE KARLE: Zunächst einmal: Der Satz hat eine Wirkungsgeschichte nach sich gezogen, die mit dem historischen Sinn nicht mehr viel zu tun hat. Insofern widerspreche ich denjenigen, die in diesen Satz hineinlesen, dass Gott den Menschen als Mann und Frau im Sinne der neuzeitlichen Vorstellung gegensätzlicher Geschlechteridentitäten schuf. Das ist ein unhistorischer Zugang. Die Vorstellung, dass Mann und Frau prinzipiell verschiedene Menschentypen darstellen, die völlig unterschiedliche Fähigkeiten und Tugenden verkörpern, hat sich erst in der Neuzeit herausgebildet. Das ist ein modernes Konstrukt. Davon steht nichts im Text, und das hat er auch nicht gemeint.

War das zu biblischen Zeiten anders?

ISOLDE KARLE: Auch zu biblischen Zeiten wurden Männer und Frauen unterschieden, aber in anderer Weise. Es gab kein komplementäres Geschlechterrollenmodell, in dem Frau und Mann sich in ihrer Gegensätzlichkeit ergänzten. Es ging eher um ein hierarchisches Verständnis. Das wird ja auch in der Paradieserzählung geschildert, wobei deren Autor dieses Herrschaftsverhältnis kritisch als Folge von Sünde betrachtet und nicht als die eigentliche Schöpfungsintention Gottes. Die hierarchische Geschlechtervorstellung geht mit ganz anderen Verhaltenscodizes einher.

Hierarchie ist auch nicht gerade angenehm.

ISOLDE KARLE: Das sage ich auch nicht, und die Frauen waren zu dieser Zeit gewiss nicht emanzipiert. Aber es gab andere Zuschreibungen für Männer und Frauen, und das muss man erst mal sehen. So konnten Frauen im Alten Testament auch Kriegerinnen sein und mit viel List um ihr Recht kämpfen. Im komplementären Geschlechterrollenmodell ist das nicht vorgesehen, da zieht der Mann, mit Schiller gesprochen, hinaus in das feindliche Leben, und drinnen waltet die Frau als züchtige Hausfrau. Die Öffentlichkeit ist für den Mann, die Familie für die Frau. Das Spannende an der Geschlechterforschung ist: Man sieht, es gibt ganz unterschiedliche Muster von Mann und Frau, die historisch stark variieren, ohne interkulturelle oder transhistorische Kontinuitäten. Und das zeigt zugleich, dass es bei der Geschlechterunterscheidung nicht primär um Biologie geht, sondern um Kultur.

Aber biologisch hat sich doch seit biblischen Zeiten nichts geändert. Frauen haben eine Vagina, Männer einen Penis…

ISOLDE KARLE: …und es ist wirklich ein eindrucksvolles Privileg der Menschen, die wir Frauen nennen, dass nur sie die Möglichkeit haben, Kinder zu gebären. Ein tolles Angebot der Natur. Aber auch hier gilt: Keineswegs alle Frauen haben die Möglichkeit, Kinder zu gebären, und keineswegs ist die körperliche Unterscheidung so eindeutig wie Sie nahelegen. Insgesamt unterscheidet die Natur deutlich weniger streng, als wir glauben. Ärzte wissen, dass es viel mehr In-Betweens gibt, als man landläufig denkt. Wir vereindeutigen sozial ein unglaublich vielfältiges Angebot der Natur und ziehen daraus sehr weitreichende Konsequenzen mit entsprechenden Verhaltensnormen und Geschlechterordnungen. Übrigens: Auch Adam war zunächst kein Mann, sondern ein sexuell undifferenziertes Erdgeschöpf. Ein Hermaphrodit, wenn man so will, weil er ein einziges Menschenexemplar darstellte, das sich einsam fühlte. Erst dadurch, dass die Frau aus diesem Erdgeschöpf geschaffen wird, entsteht auch der Mann, wird aus „Adam“ „isch“ und „ischah“ (hebräisch), also Mann und Frau. Schon dieses Wortspiel, aber auch die Erzählung selbst unterstreichen die Ähnlichkeit von Mann und Frau – nicht die Gegensätzlichkeit der Geschlechter wie in der Neuzeit. So ist Adam nach der Geschlechtsumwandlung verblüfft, wie ähnlich ihm Eva ist und ruft mit Freude aus: „Sie ist Bein von meinem Bein!“ Es gibt insofern gute Gründe, diese Texte nicht mit der streng dichotomen neuzeitlichen Optik zu lesen, wie dies in der Regel geschieht, und vor allem: diese für eine natürliche Ordnung zu halten.

Was bedeutet es dann für Sie, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat?

ISOLDE KARLE: Die Pointe dieser Bibelstelle kommt erst im nachfolgenden Satz zur Geltung. Dort heißt es: „Zum Bilde Gottes schuf er sie“. Mann und Frau sind beide zum Bild Gottes geschaffen. Nicht nur der Pharao, wie in der altorientalischen Königsideologie üblich, darf oder kann Gott repräsentieren, sondern alle. Alle Menschen sind Bild Gottes und sollen Gottes Willen in der Welt zum Ausdruck bringen. Nicht die Gegensätzlichkeit der Geschlechter, sondern diese allumfassende Perspektive steht hier im Vordergrund.

Sie verweisen in Ihren Arbeiten häufig auf einen Vers im Galaterbrief: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann oder Frau. Wir sind allesamt Einheit in Christus.“ Warum ist Ihnen diese Stelle so wichtig?

ISOLDE KARLE: Das ist ein neutestamentlicher Spitzensatz. Es ist eine urchristliche Taufformel, die hier zitiert wird. Sie besagt, dass durch die Taufe, durch die Zugehörigkeit zu Christus, nicht mehr die Normierungen durch Herkunft, Ethnie, Stand oder Geschlecht identitätsbestimmend sein sollen, sondern dass in Christus eine Neuschöpfung erfolgt, die alle zu einer Gemeinschaft zusammenschließt. Damit wurde auch ganz explizit die Mann-Frau-Unterscheidung relativiert. Alle Getauften sollen unabhängig von kulturellen und sozialen Differenzierungen und Diskriminierungen ihre individuellen Gaben entfalten können und die Freiheit des Geistes erfahren.

Was ist denn einschränkend daran, wenn Menschen als Frau oder als Mann wahrgenommen werden, warum ist das ein Problem?

ISOLDE KARLE: Das muss für den Einzelnen oder die Einzelne überhaupt kein Problem sein. Ich werde auch als Frau wahrgenommen und finde das meistens unproblematisch. Aber es nötigt mich zugleich dazu, mich einem ganz bestimmten Verhaltenskodex zu unterziehen. Ich gehe auf die richtige Toilette, in die richtigen Läden, trage Kleidung, die mich als Frau identifiziert und sorge für eine Feminisierung meines Körpers und meiner Gesten. Zugleich wird mein ganzes Verhalten immer vor dem Hintergrund der mir zugeschriebenen Geschlechtsidentität interpretiert. Das eröffnet, verschließt aber auch viele Möglichkeiten. Und nicht wenige Menschen erleben das als repressiv. Die daraus resultierende Geschlechterordnung hatte und hat dabei ganz konkrete Folgen. So haben Frauen über viele Jahrhunderte hinweg nicht die gleichen Partizipations- und Machtchancen gehabt wie Männer. Bis heute werden sie deutlich schlechter bezahlt. Bis heute sind sie in Führungspositionen unterrepräsentiert. Und für Menschen mit einer Transidentität oder auch für Intersexuelle ist die „Natürlichkeit“ der Zweigeschlechtlichkeit und die mit ihr verknüpfte Heteronormativität, die Normativität der heterosexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau, noch ein viel größeres Problem. Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte es für absurd, dass man auf Facebook etwa sechzig Geschlechts-identitäten unterscheiden kann. Aber die grundsätzliche Kategorisierung von Menschen in entweder nur männlich oder nur weiblich mit allem, was daraus resultiert, hat für viele Menschen belastende Folgen und entspricht nicht der geschöpflichen Vielfalt. Diese Dynamiken in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, warum wir die Unterscheidung nach Geschlecht derart wichtig nehmen, ist das Interesse der Genderforschung.

Wie sind die soziologischen Zuschreibungen und Konstruktionen des Geschlechtes entstanden? Und welche Rolle spielten Kirche und Theologie dabei?

ISOLDE KARLE: Wer in sozialen Kontexten lebt, versucht immer durch bestimmte Kategorisierungen Komplexität zu reduzieren. Wir brauchen auch Schubladen, um die Welt um uns herum zu sortieren und zu ordnen, sonst könnten wir uns nicht orientieren. Unsere soziale Umwelt bietet uns Unterscheidungen an, die ein Produkt von Traditionen und gesellschaftlichen Konventionen sind. Die Kirche ist ein Teil der Gesellschaft und hat in der Regel die Normen, die in der Umwelt existierten, adaptiert und manchmal auch theologisch überhöht.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

ISOLDE KARLE: Die Geschlechterunterscheidung und die mit ihr verknüpfte Geschlechterordnung ist ein Beispiel ersten Ranges. Die (asymmetrische) Unterscheidung von Mann und Frau im Sinne grundsätzlich verschiedener Wesen mit jeweils verschiedenen Fähigkeiten und Aufgaben wurde von der Kirche lange Zeit als Gott gegeben angenommen. Auch die patriarchale Eheordnung war lange ein Leitbild, das die Kirchen gefestigt haben. Dabei ist interessant, dass gerade die Jesusbewegung so ein Geschlechterverhältnis in Frage gestellt hat. Darauf deutet nicht nur der Vers aus dem Galaterbrief hin, sondern auch die hohe Bedeutsamkeit von Frauen in der Nachfolge Jesu. Frauen konnten in der frühchristlichen Bewegung Apos-telinnen und Gemeindeleiterinnen sein. Für Paulus waren sie ganz selbstverständliche Kolleginnen. Sie haben genauso wie Männer Verantwortung übernommen und die Gemeinden mitgestaltet. In den späten neutestamentlichen Briefen, den sogenannten Pastoralbriefen, hat man diese Veränderungen wieder versucht zurückzunehmen und die alte patriarchale Ordnung wieder herzustellen.

Was zumindest für die evangelische Kirche heute nicht mehr gilt…

ISOLDE KARLE: Stimmt, die evangelische Kirche hat sich, wenn auch mühsam, bewegt – aber erst im 20. Jahrhundert. Und das auch nur unter gesellschaftlichem Druck. Man hat in biblischen Sätzen, die fordern, dass das Weib in der Gemeinde schweigen solle, kein Ausschlusskriterium mehr gesehen für das Engagement und die Ordination von Frauen in der Kirche.

Ganz überwunden ist das noch nicht. Ihre Kollegen aus dem Bereich der Sozialethik zum Beispiel argumentieren mit der selbstverständlichen Annahme der biologischen Natürlichkeit und der Bipolarität der Geschlechter, gerade wenn aus Frauen Müttern oder aus Partnerschaften Familien werden. Was sagen Sie denen denn?

ISOLDE KARLE: Denen sage ich, sie sollten endlich die Soziologie zur Kenntnis nehmen. Die Geschlechterkonstruktionen sind unglaublich tief verankert in unserem Denken und unserem Habitus, aber es sind eben Konstruktionen, nicht natürliche Gegebenheiten. Niemand will zwar mehr eine patriarchale Ordnung verteidigen, aber grundsätzlich verschieden sollen Mann und Frau nach wie vor sein, ohne die immense Pluralität der Frauen und Männer wahrzunehmen. Man versucht, die Geschlechterordnung zu modernisieren und sie ein wenig emanzipatorischer zu formulieren – nach dem Motto „gleich aber verschieden“. Aber genau dies war und ist die Logik der bürgerlichen Geschlechtermetaphysik. Man tut so, als ob es nur um „verschieden“ ginge und leugnet die daraus resultierenden asymmetrischen Entfaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten, die Frauen benachteiligen. Selbst kleine symbolische Handlungen, die Frauen nicht länger unsichtbar machen sollen, wie die inklusive Redeweise, werden in der Öffentlichkeit nicht selten lächerlich gemacht.

Jetzt werden vielleicht einige unserer Leser aufstöhnen…

ISOLDE KARLE: Warum?

Viele sind von der inklusiven Sprache genervt und meinen, dass man diese nicht braucht.

ISOLDE KARLE: Das ist einfach jenseits von dem, was wir wissen. Wir wissen, dass, wenn in einem Text nur Schüler, Lehrer oder Autoren genannt werden, die allermeisten Leserinnen und Leser nur an Männer denken. Und das verstärkt eine ganz bestimmte soziale Konstruktion von Geschlecht und sorgt zugleich dafür, dass sich Mädchen und Frauen weniger angesprochen fühlen. Wenn in einer Unterrichtseinheit die Schülerinnen und Schüler selbstverständlich genannt werden, ist das nicht der Fall. Die weibliche Form hinzuzufügen ist kein Luxus oder eine Spinnerei, sondern sorgt dafür, dass Frauen und Mädchen sichtbarer werden, dass sie explizit adressiert werden und sich dementsprechend tatsächlich auch viel häufiger adressiert fühlen.

Und deshalb müssen wir auch alte liturgische Texte und Lieder umschreiben? Oder nur noch die Bibel in gerechter Sprache lesen?

ISOLDE KARLE: Das ist eine schwierige Frage, weil im Umgang mit solchen Texten natürlich auch ästhetische und historische Kriterien eine wichtige Rolle spielen. Da kann man nicht einfach eine feministische Regel anwenden. Bei manchen Umformungen von alten Kirchenliedern frage ich mich schon, ob das gelungen ist. Wenn alte Texte zitiert werden, werden alte Texte zitiert, die würde ich nicht umformulieren. Zugleich finde ich, dass die Bibel in gerechter Sprache eine Bereicherung darstellt und manchmal zu mehr Präzision führen kann: Da wird darauf hingewiesen, dass Paulus in der Regel auch die Schwestern meint, wenn er Brüder sagt. Das ist heutigen Lesern und Hörerinnen der Texte nicht mehr klar, weshalb man in diesem Fall tatsächlich mit Brüder und Schwestern übersetzen müsste. Aber auch nur dort, wo wirklich Frauen mitgemeint sind. Man kann die inklusive Sprache bei historischen Texten nicht rigoros anwenden, das würde zu Verzerrungen führen. Doch wenn ich zum Beispiel einen Vortrag halte oder mit Studierenden zu tun habe, spreche und schreibe ich konsequent inklusiv. Denn ich weiß, dass es eine Auswirkung hat auf meine Zuhörerinnen, wenn sie explizit adressiert und erwähnt werden.

Wie haben die überwiegend männlichen Kollegen, gerade aus der Theologie, eigentlich auf Ihren Ansatz reagiert, Genderforschung und Theologie zusammenzubringen? Gab es Gegenwind?

ISOLDE KARLE: Nicht wirklich. Das liegt aber auch daran, dass mein Genderbuch vor allem von Leuten wahrgenommen wurde, die selber an Genderfragen interessiert sind. Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen betrachten Genderfragen als Adiaphora: Man kann darüber nachdenken, muss es aber nicht. Die Genderfrage ist aus ihrer Sicht vermutlich nicht relevant.

Welchen Beitrag leistete der Genderansatz denn für die Theologie?

ISOLDE KARLE: Ich denke, dass das Evangelium von Jesus Christus ein Evangelium der Befreiung ist. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ So steht es im Galaterbrief. Diese Befreiungstheologie bezieht sich nicht nur wie in den Siebzigerjahren auf die Frage arm-reich, sondern auch auf „gender“ und „race“. In den USA wird das schon lange viel intensiver und zentraler reflektiert als hierzulande. Inhaltlich ist die Frage der Befreiung von Geschlechternormen für mich mit der Kernbotschaft des Christentums verbunden, auch wenn das nicht immer so gesehen und praktiziert wurde und es 2000 Jahre gedauert hat, bis man Galater 3,28 ernst genommen hat.

Es gibt nicht also nicht nur schwarz und weiß und Mann und Frau, sondern eine vielfältige und variantenreiche Schöpfung, die so zu begrüßen ist.

ISOLDE KARLE: Jeder Mensch soll seine eigenen Charismen leben und entfalten können und sich nicht in ein Korsett geschlechtsdifferenzierter Normen und Verhaltenserwartungen gezwängt fühlen. Das ist der springende Punkt, den auch das Neue Testament betont. Ein Beispiel: Noch in den Zwanzigerjahren konnten Frauen nicht Jazzmusikerinnen werden. Deshalb hat sich Dorothy Tipton die Brüste bandagiert, Anzüge angezogen und sich als Mann bezeichnet. Sie hat schließlich als Billy Tipton Karriere gemacht, sogar geheiratet und Kinder adoptiert. Das zeigt die Absurdität dieser Kons-truktion: Eine Person will Jazz spielen, weil sie wahnsinnig gut darin ist, kann es aber nicht, weil sie zur „falschen“ Geschlechtsklasse gehört.

Das liegt doch aber hinter uns, heute kann eine Frau alles werden, was sie will, Bundeskanzlerin, Bischöfin oder auch Theologieprofessorin.

ISOLDE KARLE: Trotz dieser einzelnen positiven Beispiele ist die Sache nach wie vor komplizierter. Ich habe hier an der Fakultät als erste Professorin in einem männlichen Professorenkreis angefangen und weiß, wovon ich spreche. Am Anfang begannen die Rundmails immer mit „Sehr geehrte Herren Kollegen, liebe Frau Karle“. Ich war das Andere, die Abweichung von der Norm. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir mehr Professorinnen an die Fakultät bekommen, und das hat zum Glück auch geklappt. Erst wenn etwa ein Drittel der Stellen in einem Beruf mit Frauen besetzt ist, gewöhnen sich Menschen daran und werden diese Frauen nicht mehr primär als Frauen, sondern als „professionals“, als Individuen wahrgenommen. Biographisch war für mich die Konfrontation mit den unglaublichen Erwartungen, die man noch immer an Mütter heranträgt, aber prägender.

Sie haben Ihre Professur in Bochum angetreten, als Ihre Kinder noch klein waren…

ISOLDE KARLE: Der eine war 22 Monate alt, der andere gerade geboren. Ich habe direkt nach dem Mutterschutz des zweiten Sohnes hier angefangen. Das hat damals schon viele Irritationen ausgelöst – bis hin zu Briefen, die mich mit Vorwürfen überhäuften. Wenn man als junge Mutter eine ernsthafte Karriere verfolgt und eine gute Kinderbetreuung in Anspruch nimmt, ist das nach wie vor anstößig, und man braucht viel Mut und einen guten Partner, um es trotzdem zu tun. Einem Mann würden niemals solche Fragen gestellt. Seine Karriere würde niemals angezweifelt werden, nur weil er Vater ist.

Drohbriefe, Hate-Speech, Empörung über den angeblichen Genderwahnsinn – warum regt das Thema die Menschen so kolossal auf?

ISOLDE KARLE: Es ist einfach so, dass die Themen Sexualität und Gender hoch emotional besetzt sind. Wenn die bürgerliche Geschlechterordnung in Frage gestellt wird, erzeugt das bei nicht wenigen Angst und entsprechende Gegenreaktionen. Hinzu kommt, dass im Moment ein antifeministischer, antigenderistischer Wind weht, vermutlich weil man wahrnimmt, dass die Pluralisierung der Geschlechterordnungen schon längst im Gange ist. Auch der Deutsche Ethikrat empfiehlt, dass ein drittes Geschlecht im Geburtsregister oder im Personalausweis eingetragen werden können muss. Es gibt immer mehr Anerkennung für Abweichung. Und das ist für viele Menschen offensichtlich sehr bedrohlich.

Ist das nicht eher ein Generationenproblem, das sich nach und nach von selber löst?

ISOLDE KARLE: Das glaube ich nicht. Ich habe im Sommersemester eine verblüffende Erfahrung gemacht. Ich bot ein Seminar zu Gender, Körperlichkeit und Religion an. Der Besuch war vergleichsweise schlecht. Ich habe die Studierenden am Ende gefragt, was sie vermuten, wieso so wenige da waren. Die Antwort war: Wenn die Kommilitoninnen und Kommilitonen in der Seminarankündigung das Wort Gender lesen, kommen sie nicht. Sie haben dann die Befürchtung, dass es nur um Ideologie und political correctness geht. Insofern fürchte ich, dass wir im Moment einen „backlash“ erleben. Da hat der Rechtspopulismus enorme Erfolge erzielt.

Die Kritik kommt aber auch aus dem Feminismus. Wenn man liest, was Alice Schwarzer so zur Genderforschung sagt…

ISOLDE KARLE: Ich schätze Alice Schwarzer, dies vorneweg. Sie steht nun aber für den klassischen Feminismus, der die Mann-Frau-Unterscheidung als Basis seines politischen Kampfes braucht. Deshalb darf diese Unterscheidung nicht in Frage gestellt werden. Prinzipiell die Genderforschung derart zu verunglimpfen, wie das in der Emma zuletzt geschehen ist, ist allerdings schon ein starkes Stück.

Zwanzig Jahre Genderforschung, hieß es, hätten doch gar nichts gebracht, kein Ergebnis…

ISOLDE KARLE: Was erstens nicht stimmt und was zum zweiten Wissenschaft mit Politik gleichsetzt. Das aber ist ein Kategorienfehler. Auch wenn die meisten Genderforscherinnen und -forscher mit ihrer Forschung auch politische Ziele verfolgen, sind sie in aller Regel darauf bedacht, die wissenschaftliche nicht mit der politischen Rationalität zu verwechseln. Jeder ideologischen Inanspruchnahme von Wissenschaft ist hier zu wehren.

Würden sie mit Blick auf die Theologie sagen, dass der Genderansatz eine Weiterentwicklung der Feministischen Theologie darstellt? Oder ist er eine Ergänzung?

ISOLDE KARLE: Ich sehe den Genderansatz als Weiterentwicklung der Feministischen Theologie. Ich habe selbst mit Feministischer Theologie angefangen, fand aber das Rekurrieren auf eine weibliche Erfahrung, in der ich mich selbst nicht wiedergefunden habe, schwierig. Auch die klare Täter-Opfer-Unterscheidung fand ich problematisch. Die Genderforschung betont demgegenüber viel stärker den interaktiven Charakter der Geschlechterordnung, die von Frauen auch bewusst oder unbewusst unterstützt werden kann. Nicht wenige Ehen, die man von außen als patriarchal betrachten würde, werden von innen betrachtet vor allem von Frauen bestimmt und gestaltet.

Sie sind Praktische Theologin. Was nehmen die künftigen Pfarrer und Pfarrerinnen aus ihren Seminaren mit in den Gemeindealltag?

ISOLDE KARLE: Ich versuche sie dafür zu sensibilisieren, dass das, was sie mitunter als unmittelbar und naturgegeben betrachten, sehr viel mit sozialen Prozessen, Deutungsmustern und Semantiken zu tun hat. In dem erwähnten Genderseminar im Sommersemester habe ich mich am Anfang gewundert, dass sich die Teilnehmenden zunächst relativ wenig beteiligten. Beim Feedback hat eine Studentin dann gesagt, dass sie erst einmal verwirrt gewesen sei, weil sie die Geschlechterunterscheidung noch nie hinterfragt und als soziales Phänomen betrachtet habe. Und dass sie sehr viel für sich dabei gelernt habe. Das sind Lichtmomente, wenn es zu einer solch konstruktiven Irritation kommt. Und wenn ich als Professorin merke, hier beginnt jemand ganz neu über sich und seine eigene Identität nachzudenken, und zwar über den Umweg der Wissenschaft, dann sind das sehr beglückende Erfahrungen.

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Stephan Kosch am 5. September 2017 in Bochum.

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