Wir sind dem Blues sehr nahe
zeitzeichen: Herr Steinmetz, wie sind Sie zum Jazz gekommen?
Uwe Steinmetz: Er ist wohl eher zu mir gekommen. Die Bank in meiner Heimatstadt Bremervörde wollte eine Band ins Leben rufen und hatte Instrumente ausgestellt. Mir gefiel das Saxophon optisch am besten, aber ich hatte keine Ahnung, wie man es spielt. Dazu brauchte ich einen Lehrer. Er kam aus Hamburg und wurde über ein Stipendium dafür bezahlt, auf dem Land Musikunterricht zu geben. Er war Jazzmusiker und hat mir Platten aufgenommen, mit denen er mich für diese Musik begeistern wollte. Das hat funktioniert. Ursprünglich wollte ich nämlich Physiker werden.
Was hat Sie so fasziniert am Jazz?
Uwe Steinmetz: Zunächst einmal das, was ich heute strukturierte Freiheit nenne. Bis dahin war für mich Musik immer definiert durch feste Regeln, die einzuhalten waren. Deshalb fand ich Jazz zunächst fürchterlich, weil alles so chaotisch klang. Aber als Teenager habe ich dann gemerkt, dass es im Jazz genau um das Wechselspiel von festen Regeln und Freiheit ging. Umso weiter man da eintaucht, desto mehr lernt man den spielerischen Umgang mit Regeln, die man brechen kann oder die man sogar brechen muss, damit neue entstehen. Das hat mich wirklich fasziniert. Hinzu kam der Kontakt mit anderen Menschen, denn diese Musik kann wirklich nur aus dem Kollektiv entstehen, wobei jeder auch mal eine Führungsrolle übernehmen kann. Aber es steht niemand ständig vorne und dirigiert. Das ist wie beim Fußball. Man kann nur als Mannschaft spielen, aber manchmal gibt ein einzelner Spieler Gas, schießt ein Tor und dreht so das ganze Spiel.
Eine wichtige Quelle des Jazz ist der Blues, was ja zu unserem Schwerpunktthema passt. Was macht den Blues eigentlich so blau?
Uwe Steinmetz: Die Färbung der Töne durch die Sänger. Die weiße Folk-Musik, die bis dahin gespielt wurde, war ja sehr europäisch, sehr clean. Die schwarzen Blues-Musiker im Mississippi-Delta haben aber angefangen, tiefer zu singen als es der Akkord der Begleitinstrumente eigentlich erlaubt. Und dadurch entsteht so viel Dissonanz, so viel Reibung, dass die Melodien viel aussagekräftiger wurden. Das Phänomen gibt es auch im portugiesischen Fado und in der Musik Brasiliens. Aber selbst in der alten Kirchenmusik, die nur aus einer Stimme besteht, kann man das hören. Auch da wurden viele Verzierungen eingebaut, die Töne umspielt und tiefer oder höher angesetzt. So erzeugt man eine bestimmte Reibung, betont bestimmte Worte. Der Blues hat dieses Prinzip wieder für die Popularmusik entdeckt.
Der Blues hat eigentlich religiöse Wurzeln?
Uwe Steinmetz: Ja, in mehrfacher Hinsicht. Die Gesangstechniken kamen zu dieser Zeit aus dem Gospel der schwarzen Kirchen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten. Und dann haben die Sänger sich selber auf der Gitarre begleitet, neue Spieltechniken erfunden und so eine ganze Band ersetzt. In sehr kurzer Zeit ist so ein bestimmter Musikstil entstanden und zwar aus der Notwendigkeit heraus, eine persönliche Botschaft zu formulieren, egal ob ich eine Band habe oder nicht. Diese Wurzel ist auch im Jazz erhalten geblieben, die Notwendigkeit zum eigenen Ausdruck.
Gilt das auch für den Text? Meist geht es in Blues-Stücken doch immer um das gleiche...
Uwe Steinmetz: Es gibt ein wiederkehrendes Schema. Erste Zeile: Ich wache auf und habe Kopfschmerzen. Es geht mir nicht gut. In der zweiten Zeile kommt es noch dicker: Mein Haus ist abgebrannt oder meine Frau ist weg, Schmerz, tiefblaue Melancholie. Aber dann kommt der Schritt hinaus aus diesem Elend: Ich stehe auf und koche Kaffee. Oder ich gehe aus, treffe Menschen, oder ich kaufe ein Zugticket und fahre woandershin. Das ist keine Melancholie wie in den Filmen von Lars von Trier, bei denen die einzige Freude, die man noch spürt, die Lust am Untergang ist. Das Lebensgefühl im Blues ist anders: Die Lage ist ernst, aber es gibt auch etwas, an dem ich mich festhalten kann. Das ist die säkulare Variante der Hoffnung, die die Gospels in der Religion fanden. Das ist wichtig für unsere Zeit, in der viele Elemente des Glaubens mittlerweile säkularisiert sind. In dieser Hinsicht sind wir dem Blues sehr nahe.
Ein Stilelement des Blues und Jazz sind die blauen Töne, die Blue Notes. Was genau ist das?
Uwe Steinmetz: Im Prinzip ist das die Übertragung des Blues-Gesangs auf die Instrumente. Louis Armstrong war der erste, der sie bei seinen Aufnahmen ab Mitte der Zwanzigerjahre genutzt hat. Er hat in einem Dur-Akkord plötzlich eine Moll-Terz gespielt und so eine bewusste Dissonanz erzeugt. Er wollte, dass die Musik vokaler klingt. Musiktheoretisch kann man sagen, dass ein Akkord in Frage gestellt wird. Armstrong wusste, dass gerade ein Dur-Akkord erklingt, aber er spielte dennoch Moll. Diese Technik haben dann die anderen Jazz-Musiker übernommen, sie quasi zu ihrem Markenzeichen gemacht und sich damit gegen die europäische Musiktradition abgegrenzt.
Die Blue Notes wirken aber auch bei Zuhörern, die keine musiktheoretischen Kenntnisse haben, oder?
Uwe Steinmetz: Natürlich. Sie sorgen für eine gewisse Schwere, es löst sich nicht eben alles harmonisch auf.
Man erreicht den Gipfel nicht ganz?
Uwe Steinmetz: Das ist ein gutes Bild. Aber genau das spricht den Zuhörer ja stärker an, weil es ein bisschen zwickt. Und so ein Klang bekommt manchmal auch eine spirituelle Dimension.
Die Schwere ist spirituell? Nicht die leichten, schwebenden, ätherischen Klänge?
Uwe Steinmetz: Das Prinzip der Schwere ist gut, weil Glaube für mich auch Verortung bedeutet. Es geht nicht um die Schwere, die einen niederschlägt und zu Boden zieht, sondern um eine Schwerkraft, die erdet und Heimat gibt. Das hat für mich etwas Religiöses. Wir leben doch in dieser Zeit der unendlichen Möglichkeiten und scheinbar grenzenlosen Freiheit. Aber das macht es schwer, sich zu verorten, sich festzuhalten an etwas, und in der Reibung daran auch immer wieder Freiheit wirklich zu erleben. Ich kann zum Himmel doch erst dann ein tieferes Verhältnis entwickeln, wenn ich einen Standpunkt auf der Erde habe.
Damit sind Sie wieder bei der strukturierten Freiheit des Jazz. Und irgendwie auch beim Freiheitsbegriff von Luther.
Uwe Steinmetz: Sie meinen die Idee, dass ein Christenmensch freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan ist und gleichzeitig ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan ist? Ja, stimmt, so ähnlich funktioniert auch der Jazz: höchster Individualismus in punkto eigener Tonsprache - aber er ist nur im Kollektiv machbar.
So gesehen ist Jazz also die ideale protestantische Kirchenmusik ...
Uwe Steinmetz: Sie könnte es sein. Aber die Musik in unseren Kirchen ist noch stark von den festen Formen beeinflusst und besitzt relativ wenig Freiheit. Es gibt Noten, es gibt Lehrmeinungen und klare Vorbilder, wie die Musik zu klingen hat. Dieses Ideal versucht man dann mit der Kantorei oder dem Bläserchor oft unter großem Stress zu erreichen. Oder man lässt ein Raumschiff in der Kirche landen, indem man Geld für besonders gute Musiker ausgibt und eine Bachkantate mit ihnen virtuos aufführt. Und man meint, damit in einer langen Tradition zu stehen. Aber so haben Bach oder Monteverdi gar nicht gearbeitet. Die haben relativ spontan musiziert, auch im Gottesdienst schnell mal ein neues Stück ohne langes Proben gesungen. Das klang bestimmt nicht immer virtuos. Aber diese Musik war verbunden mit dem Ort und der Situation.
Ist denn diese Verbundenheit wichtig für Kirchenmusik?
Uwe Steinmetz: Ich denke schon. Kirchenmusik sollte so sein wie eine Predigt, die Leute an den Ort bindet, etwas Lokales erlebbar macht, sie muss immer wieder neu aus dem Moment heraus entstehen. Ich sehe den idealen Kirchenmusiker nicht als Gralshüter der Traditionen, sondern eher als eine Art musikalischen Direktor, der schaut, welche Menschen in seiner Gemeinde musikalisch Gottesdienste gestalten können. Er muss runter von der Empore und mit diesen Menschen unten einen Teppich weben, mit allen Aspekten und auch Fehlbarkeiten. Dann entsteht etwas Authentisches und Kollektives, das eben nur diese Menschen an diesem Ort gemeinsam schaffen. Wenn auch den Zuhörern deutlich wird, dass es nicht so sehr um Perfektion geht, sondern um das Situative, das Authentische, gibt das ein Gefühl von Heimat, weswegen sie gerne wieder in die Kirche kommen. Das klingt traditionell, ist es aber nicht, weil es gar nicht mehr so oft stattfindet.
Haben Sie das schon mit ihren eigenen Projekten erlebt? Sie spielen ja immer wieder in Kirchen gemeinsam mit musikalischen Laien ...
Uwe Steinmetz: Ja, und es ist fast immer eine Bereicherung für beide Seiten. Ich hatte ein tolles Erlebnis im vergangenen Jahr im Alten Land bei Hamburg mit unserem Ensemble "WAVES". Die Chorleiterin war Lehrerin, aber der Chor bestand überwiegend aus Bäuerinnen und Bauern, die von diesen wunderschönen alten Höfen kamen.
Und mit denen haben Sie Jazz in der Kirche gemacht?
Uwe Steinmetz: Das war die Vorlage, ein gemeinsames Konzert in der Kirche. Wir mussten erstmal schauen, was zusammengeht. Dreistimmiger Gesang haute nicht hin, zweistimmig klappte es auch nicht recht, dann hat der Chor eben einstimmig gesungen. Und das hat er großartig gemacht: Fünfzig erwachsene Menschen, Bäuerinnen und Bauern mit all ihrer Erdung und Erfahrung, die mitklang - das war die totale Power.
Welche Stücke haben Sie mit diesem Chor gesungen?
Uwe Steinmetz: Lieder, die alle kannten, auch Volkslieder, aber wir haben die Stücke dann neu bearbeitet, auf einer Orgel mit alter Stimmung begleitet. Wir haben versucht, den Raum zu nutzen. Ich lasse Menschen gerne improvisieren, bitte sie, zwei Wörter aus dem Liedtext zu nehmen, vielleicht auch aus einem Psalm, die ihnen besonders viel sagen, zum Beispiel Sonne oder Regen. Und dann sollen sie aussprechen, was sie denken, diese Gedanken immer wiederholen, es den Leuten zusprechen. So entsteht ein kollektiver Improvisationsprozess. Wir kamen dann auf fallende Mauern, was sich in der Biographie der Leute niedergeschlagen hatte, weil nach dem Mauerfall viele Tschechen und Polen als Ernte-helfer zu ihnen kamen. Damit war das Eis gebrochen und wir haben tolle gemeinsame Musik gemacht.
Aber diejenigen, die Kirchenmusik nach den klassischen Kriterien beurteilen, folgen Ihnen nicht immer.
Uwe Steinmetz: Nein, natürlich haben wir auch Kritiker, die uns danach beurteilen, wie nah wir dem vermeintlichen Ideal der Perfektion in Punkto Klangreinheit und Tonhöhe kommen. Und wir kassieren auch Verrisse, die wir vielleicht verhindern könnten, wenn wir nur mit Profis arbeiten würden. Aber die reale Kirchenmusik ist anders, und sie muss es auch sein. Es ist bedeutsam, wenn sich ein Chor mit für ihn ungewöhnlicher Musik auseinandersetzen muss, sich daran reibt, sich auch aufregt. Aber am Ende findet man sich dann doch zusammen. Und wenn ich die Aufnahmen höre, erinnere ich mich an diesen Prozess, an das Menschliche in der Musik, das Blues-Element, das nur in dieser Situation mit diesen Menschen möglich war. Das sind gelebte Blue Notes. Und die gilt es zu stärken!
Das Gespräch führten Stephan Kosch und Reinhard Mawick am 25. Juni 2015 in Berlin.
Uwe Steinmetz: wurde 1975 in Bremervörde/Niedersachsen geboren und studierte Saxophon und Musiktheorie in Berlin, Bern, Indien und Boston. Er arbeitet weltweit freischaffend als Komponist, Saxophonist und Dozent. Seit 2008 ist er Lehrbeauftragter für Saxophon, Literaturkunde und Ensemblespiel an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. 2009 gründete er gemeinsam mit dem Lüneburger Organisten Daniel Stickan das Ensemble "Waves", das die Begegnung zwischen Klassik und Jazz in Kirchenräumen auslotet. Ihre gleichnamige CD wurde für den Deutschen Schallplattenpreis nominiert. Zuletzt erschien "Nein, lieber Mensch, so nicht! - Eine Freiheitskantate für Martin Luther".
Uwe Steinmetz
Uwe Steinmetz
Dr. Uwe Steinmetz ist Musiker, Komponist und Dozent. Er lebt in Berlin.