Ort des imaginierten Lebens
zeitzeichen: Frau Professorin Neu, Sie haben in einem Essay daran erinnert, dass laut einer Allensbach-Befragung seit 1956 immer mehr Deutsche erklärt haben, sie würden das Leben auf dem Land dem in der Stadt vorziehen. Vor drei Jahren waren es 41 Prozent. Aber warum verlassen dann immer mehr Leute das Land und ziehen in die Stadt?
CLAUDIA NEU: Die Stadt ist der Raum zum Leben, und der ländliche Raum ist der Ort des imaginierten Lebens. Einerseits braucht man die Infrastruktur der Stadt, öffentlichen Nahverkehr, Bildung, ärztliche Versorgung und Arbeitsplätze. Auf der anderen Seite fühlen sich viele gestresst, belastet von Unsicherheiten und wohl auch entfremdet von lokalen Bezügen. So wird der ländliche Raum zu einem Ort der Sehnsucht, der mit Vorstellungen von Ruhe, Natur, Ursprünglichkeit und Gemeinschaft aufgeladen wird.
Trotzdem werden die ländlichen Räume immer leerer. Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung spricht davon, dass der Bevölkerungsschwund auf dem Land so stark ist wie nach dem Ausbruch der Pest im Mittelalter.
CLAUDIA NEU: Die Auswirkungen des demographischen Wandels treffen die einzelnen Regionen Deutschlands in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Als Faustregel gilt, je weiter eine Region von einer Agglomeration, einer größeren Stadt, entfernt ist, desto stärker ist der Bevölkerungsschwund. Vor allem entlegene ländliche Räume und Kleinstädte – nicht allein in Ostdeutschland – sehen sich seit einigen Jahren mit den unmittelbaren Folgen von Geburtenrückgang, Alterung und Wanderungsverlusten konfrontiert. Dazu kommt: In Folge des verstärkten Infrastrukturabbaus, dem Verlust öffentlicher Dienstleistungen wie Schulen, Verwaltung oder Kirchen lichtet sich die Sozialstruktur der Orte selbst, die gesellschaftlichen Kreise, die die lokalen Mittel- und Oberschichten tragen, verkleinern sich oder verschwinden. Schrumpfende Infrastruktur und Daseinsvorsorge gehen zu Lasten der finanziell nicht so gut gestellten Bevölkerungsgruppen. Aber je näher der ländliche Raum an eine Agglomeration heranwächst, und je weiter er im Süden liegt, desto weniger schrumpft er.
Warum?
CLAUDIA NEU: Weil es im Süden des Landes mehr Arbeitsplätze gibt, eine bessere Infrastruktur und intaktere Versorgungsstrukturen.
Das heißt, im Süden schrumpft der ländliche Raum weniger, weil dort mittelständische Betriebe Arbeitsplätze bieten?
CLAUDIA NEU: Genau. Das Bundesamt für Raumordnung hat im Raumordnungsbericht 2011 erstmals mitgeteilt, dass die Lebensverhältnisse in Deutschland nicht mehr gleichwertig sind. In Süddeutschland sind sie überdurchschnittlich gut, im Nordosten und in Teilen des Ruhrgebietes sind sie dagegen überdurchschnittlich schlecht.
Kann die Abwanderung aus dem ländlichen Raum durch die Schaffung von Arbeitsplätzen gebremst werden?
CLAUDIA NEU: Arbeitsplätze in erreichbarer Nähe sind die Grundlage für die Entwicklung ländlicher Räume, doch so einfach ist es nicht. Die Unternehmensansiedlungspolitik hat enge Grenzen und junge „smarte“ Startups gehen eben auch gern nach Berlin. Zudem hat es in Deutschland schon immer Regionen gegeben, die kaum industrialisiert waren und auch den Sprung in die Dienstleistungsgesellschaft nicht geschafft haben. So sind Mecklenburg-Vorpommern, die Pfalz und Bergregionen immer starke Abwanderungsgebiete gewesen. Das ist im Grunde keine neue Situation. Die politische und gesellschaftliche Frage lautet daher: Wird die Polarisierung zwischen den Regionen als ein Problem wahrgenommen?
Wird sie?
CLAUDIA NEU: Seit einiger Zeit schon, seit der Wahl Donald Trumps in den usa, der französischen Präsidentschaftswahl und dem Erstarken der AfD. Denn man sieht ganz klar, die Populisten sind in abgehängten ländlichen und städtischen Räumen stark, sei es in den Appalachen in den usa, in Mecklenburg-Vorpommern oder dem deindustrialisierten Norden Frankreichs. Nun sprechen wir wieder über regionale Unterschiede und regionale Disparitäten.
Warum wurde über regionale Ungleichheiten lang nicht gesprochen?
CLAUDIA NEU: In der Bundesrepublik herrschten jahrzehntelang fast annähernd gleiche Lebensverhältnisse. In die ländlichen Räume wurde massiv investiert, Krankenhäuser und Gymnasien gebaut. Wir haben in allen Teilen des Landes ein ungeheuer hohes Lebensniveau für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Aber seit einiger Zeit lässt sich in etlichen ländlichen Regionen eine deutliche Verschlechterung der Lebensqualität, ein eingeschränkter Zugang zu Gesundheit und Bildung sowie dem öpnv feststellen. Und doch haben wir immer noch die politische Leitlinie der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.
Das gebietet das Grundgesetz.
CLAUDIA NEU: Seit den Fünfzigerjahren verbindet sich der Gedanke der Daseinsvorsorge, der Ausstattung mit öffentlichen Infrastrukturen mit dem politischen Willen, gleichwertige, das heißt einheitliche Lebensverhältnisse zu schaffen (Artikel 72 Absatz 2, Art. 106 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 Grundgesetz) und erweitert so den sozialen Teilhabegedanken um eine föderale räumliche Dimension. Dennoch müssen wir deutlich unterscheiden zwischen regionalen Unterschieden und Ungleichheiten. Regionale Unterschiede bei Ernährung, Kleidung und Mundarten hat es immer gegeben, und die bedeuten für die Menschen auch Identität und Heimat. Mich interessiert als Soziologin, ob aus regionalen Unterschieden Ungleichheit wird. Ein Unterschied wird dann zur Ungleichheit, wenn er mit Bevorzugung oder Benachteiligung einhergeht. Das ist der Fall, wenn die Lebensbedingungen in entlegenen ländlichen Räumen Menschen schlechter stellen, etwa wenn der Besuch beim Arzt zu einer Tagesreise wird. In schrumpfenden Gemeinden und Städten ist eine flächendeckende und bezahlbare Daseinsvorsorge schon längst nicht mehr selbstverständlich. Die Frage ist, welche Folgen das für den Zusammenhalt der Gesellschaft hat.
Kann man diese Prozesse noch aufhalten?
CLAUDIA NEU: Geht es wirklich um aufhalten oder um gestalten? Selbstverständlich dürfen Menschen nicht ihre Grundrechte etwa auf Gesundheit, Bildung oder (Tele-)Kommunikation vorenthalten werden. Daher braucht es auch weiter ein klares Bekenntnis zur flächendeckenden Daseinsvorsorge. Dennoch wird sie zukünftig anders aussehen und von mehreren Akteuren – öffentliche Hand, Unternehmen, Bürger – gemeinsam geleistet werden. Das ist aufwendig und erfordert Mut und Disziplin von allen Beteiligten. Die zunehmende Digitalisierung kann hier sicher hilfreich sein, etwa bei Mitmach-Apps.
Sie plädieren für flexible Lösungen?
CLAUDIA NEU: Die gute alte Regel „one fits for all“ passt nicht mehr. Nun muss jede Gemeinde eigene Lösungen suchen und finden. Dies ist mühsam, erzielt aber im besten Fall passgenaue Lösungen, die die Bedürfnisse der Bürger abdecken. Hilfreich ist es sicher, Prioritäten zu setzen: Gemeinden müssen sich fragen, was sie erreichen wollen – was ist unser Ziel? Dabei müssen die Bürger beteiligt werden, aber dies darf nicht bedeuten, dass man sie zu Lückenbüßern macht, die dort einspringen, wo sich die öffentliche Hand zurückzieht.
Das Stichwort heißt „Caring Communities“. Mit anderen Worten, das Ehrenamt und die Nachbarschaftshilfe sollen es richten. Wie stehen Sie dazu?
CLAUDIA NEU: Caring Communities versuchen auf verschiedene Herausforderungen – Alterung, Rückzug des Wohlfahrtsstaates aus der Fläche, veränderte Familienstrukturen – zu reagieren. Caring Communities entstehen aber nicht aus dem Nichts, es braucht Rahmenbedingungen und finanzielle wie rechtliche Unterstützungssysteme. Sind die vorhanden, sind sorgende Gemeinschaften natürlich eine wunderbare Lösung. So kann Altern in Gemeinschaft möglich werden. In Süddeutschland gibt es viele Beispiele dafür, dass sich Gemeinden aufgemacht haben, eine Caring Community zu werden. Ich fürchte nur, dass es für dieses Sozialmodell in vielen ländlichen Regionen an Ressourcen fehlt. Wenn Orte schon stark überaltert sind, weil jüngere Leute weggezogen sind, wenn öffentliche Infrastruktur fehlt oder die Gemeindekasse leer ist, dann wird es schwer für eine Caring Community. Denn in den peripheren Regionen zeigt sich, wie das Verschwinden der öffentlichen Infrastruktur, leere Kassen und demographischer Wandel Hand in Hand gehen. Es fehlt nicht nur an Nachwuchs für die Fußballmannschaft, sondern auch an Jugendtrainern und Mitteln für das Sportfest. Ehrenamtliche Tätigkeit ist zumeist an bestimmte Räume und Plätze gebunden, soziale Orte wie Schulen, Gemeindehäuser oder Gastwirtschaften. Fehlen sie, stehen die Chancen für eine aktive Bürgerschaft nicht gut.
Warum hat die Politik so lange die Augen vor den Veränderungen im ländlichen Raum verschlossen?
CLAUDIA NEU: Wir haben in der Politik einen Paradigmenwandel erlebt. Im Zuge des Neoliberalismus galt die Devise, dass die öffentlichen Verwaltungen schlanker werden und kommunale Dienstleistungen privatisiert werden müssen. Erstaunt hat man dann festgestellt, dass sich die privaten Anbieter auf ihre Kernkompetenzen zurückziehen: das Geldverdienen. Das ist ja auch legitim. Aber so wurden bestimmte Regionen, Menschengruppen und Bedürftige abgehängt. Außerdem dachte man, die großen Agglomerationen, die Großstädte und Industriegebiete hätten genügend Strahlkraft, auch für den ländlichen Raum. Aber diese Leuchtturm- und Lokomotivpolitik hat nicht funktioniert. Es haben aufgrund des demografischen Wandels und einer teilweise schwachen Wirtschaft starke Abkopplungsprozesse stattgefunden. Und diese Strukturen haben sich inzwischen verfestigt.
In den vergangenen Jahren sind immer wieder Förderprogramme für den ländlichen Raum aufgelegt worden. Haben diese denn versagt?
CLAUDIA NEU: Die Entwicklung der Sozialräume verläuft in der Bundesrepublik seit etlichen Jahren asymmetrisch, so dass auch Förderprogramme sie nicht mehr angemessen gestalten können. Die bisherige Förderpolitik lebte in der Hoffnung, Planung plus massiven Ressourceneinsatz würden die Probleme lösen. Doch offensichtlich reicht, auch die wiederholte Modellförderung einzelner Regionen wie Dithmarschen oder die Uckermark nicht.
Betrifft diese Entwicklung nur Deutschland?
CLAUDIA NEU: Landflucht und Urbanisierung sind ein weltweites Phänomen. In wenigen Jahren werden 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Auch wenn wir in Deutschland relativ gut aufgestellt sind, müssen wir darüber nachdenken, ob uns der ländliche Raum mehr wert ist als ein Sonntagsausflug? Immerhin hat Ländlichkeit ja ein positives Image.
Wie sieht das aus?
CLAUDIA NEU: Das Bild der Ländlichkeit hat mit dem realen Leben nie etwas zu tun gehabt. Gerade das Dorf und der ländliche Raum sind oft von großer Enge geprägt und von Klassenunterschieden, die sich sehr stark an Eigentum und Besitz orientieren. Geografische Nähe wird hier mit sozialer Nähe verwechselt. Nur weil man nebeneinander wohnt oder miteinander arbeitet, ist man noch lange nicht gleich. Aber Natur ist in Deutschland sehr positiv besetzt, unser Wald, unsere Naturdichtung, unsere Mittelgebirge sind ein wichtiger Teil unserer Identität. Die Themen Heimat, Kultur, Umwelt und Gesundheit sind in Deutschland sehr hoch und positiv bewertet. Für viele Zeitgenossen steht Ländlichkeit für Naturnähe, entschleunigtes Leben, Zusammenhalt, persönliche Kommunikation. Diese Wünsche sind ja auch sehr nachvollziehbar. Außerdem sind die Regionen Deutschlands mit ihrer kulturellen Vielfalt, ihren Eigenheiten etwas, was es auch wertzuschätzen gilt.
Was heißt das ganz konkret: Wie soll das gelingen?
CLAUDIA NEU: Ich halte die Idee, dass die „Regionale Daseinsvorsorge“ eine Aufgabe des Bundes sein soll, für gut. Vorstellbar ist dies in Form einer neuen Gemeinschaftsaufgabe, neben der Gemeinschaftsaufgabe Agrar- und Küstenschutz (GAK) und der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GWR). So können wir den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Bundesrepublik stärken. Denn wir können es nicht allein den einzelnen, zum Teil sehr verarmten Kommunen überlassen, sondern müssen es als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ansehen, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland zu gestalten.
Und was wären die praktischen Folgen?
CLAUDIA NEU: Ziel sollte es sein, Chancengleichheit und Teilhabe in allen Teilräumen zu organisieren. Dazu gehört eine flächendeckende Daseinsvorsorge mit verlässlichen Mobilitätskonzepten und Breitbandversorgung. Dazu gehören Zweigstellen von Arztpraxen und Verwaltungsangestellte, die mit Bussen in die Dörfer fahren und dort ihre Dienste anbieten.
In den Siebzigerjahren hat man kleine Orte zu Großgemeinden zusammengeschlossen. War das ein Irrweg? Auch in Brandenburg versucht man jetzt eine Landkreisreform.
CLAUDIA NEU: Betrachte ich es allein aus Kosteneinsparungsgründen, kann das sinnvoll sein. Aber übersehen werden die Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Gesellschaft. Was passiert, wenn die Bewohner nicht mehr Vertreter des Staates, der Verwaltung und der Polizei zu Gesicht bekommen und erleben? Es ist ein Unterschied, ob ich es mit einem Ortsvorsteher zu tun habe und mich an ihn wenden kann oder mit einem Bürgermeister, der für 18 Ortsteile zuständig ist. Außerdem minimieren ständige Zusammenlegungen die Bedingungen, dass Menschen sich organisieren und mitwirken können. Es gibt kein unmittelbares dörfliches Forum mehr, wo ich mit anderen etwas entscheiden kann oder wenigstens zusammenkomme. Oft sind es noch die Kirchengemeinden, die hier wirken, aber eben auch nicht immer und überall. Wo also treffen sich Leute? Was wird aus einer Gemeinde, die keine sozialen Orte mehr hat?
Wo und wie kann Gesellschaft auf dem Land überhaupt stattfinden?
CLAUDIA NEU: Ergänzend zum planungsorientierten Zentrale-Orte-Konzept, nach dem Infrastruktur im Raum verteilt wird, könnte ein Soziale-Orte-Konzept aufgebaut werden, dass sich neben der Versorgung auch um den sozialen Zusammenhalt kümmert. Ein Studentenprojekt an der Universität Kassel, das von der Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützt wird, untersucht aktuell, was mit Gemeinden passiert, die demografisch oder ökonomisch gar nicht so schwach sind, aber trotzdem genau unter dem Abbau der Infrastruktur leiden. Und da zeigt sich sehr deutlich, dass es häufig an einem Ort mangelt, wo man noch zusammenkommen kann. Etwa in einer hessischen Gemeinde: Dort sind in die ehemalige Schule, die aufgegeben werden musste, ein Dorfladen, ein Café, eine Praxis für Krankengymnastik integriert, und der Dorfplatz ist saniert worden. Nun reitet der Heilige Martin wieder, und auch an Weihnachten wird öffentlich gesungen, das alles auf diesem kleinen Platz. Wir brauchen in den Gemeinden Öffentlichkeit, und zwar nicht die aus dem Internet, sondern Plätze, wo Menschen sich schlicht begegnen können. Und wir müssen neu darüber nachdenken, was Öffentlichkeit in einer digitalen Welt heißt.
Kann ich Zusammenhalt erzeugen, ohne Orte zu haben, an denen Menschen zusammenkommen können? Bedeutet das, dass sich ländliche Räume nur noch über Drohnen versorgen lassen müssen?
Diese Form wäre ja möglich. Trotzdem muss bei der Versorgung eines älteren Menschen gewährleistet sein, dass er noch in Kontakt mit Anderen kommen kann. Das hinzubekommen, wird eine zentrale Aufgabe für die Zukunft sein.
Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Jürgen Wandel am 19. Mai in Göttingen.
Claudia Neu