„Geh raus zu den anderen Menschen!“
zeitzeichen: Herr Professor Kruse, mehr als eine Million Menschen in Deutschland leben derzeit mit einer demenziellen Erkrankung. Diese Zahl soll sich in den nächsten Jahrzehnten mehr als verdoppeln. Sind wir darauf gut vorbereitet?
ANDREAS KRUSE: Wir sind dann gut vorbereitet, wenn es uns bald gelingt, öffentlich deutlich zu machen, dass man nicht nur die gefäßbedingten, sondern auch die neurodegenerativen Demenzen zum Teil vermeiden oder dazu beitragen kann, dass Demenz deutlich später symptomatisch wird. Untersuchungen aus den USA und Großbritannien belegen: Demenzerkrankungen, auch die neurodegenerativen wie die Alzheimer-Demenz, nehmen nicht in der Geschwindigkeit zu wie die Zahl der Menschen im Alter von 80 Jahren und mehr. Das ist bedeutsam. Durch Lebensführung, Umweltgestaltung und medizinisch-rehabilitative Versorgung scheint es zu gelingen, dass die Zahl der demenzkranken Menschen nicht in dem Maße ansteigt wie in früheren Jahren. So vorsichtig muss man das ausdrücken.
Aber klar wird: Mit Blick auf die Alzheimer-Demenz muss man, ja darf man keinen medizinisch-diagnostischen und therapeutischen Nihilismus verbreiten. Vielmehr sollte man an alle appellieren, das körperliche und kognitive Training zu verstärken und emotional und geistig offen zu bleiben und sich im Gemeinwesen zu engagieren.
Sie sprechen von einer vaskulären, gefäßbedingten Demenz und einer neurodegenerativen. Worin unterscheiden sie sich?
ANDREAS KRUSE: Wenn die Gefäße geschädigt und aus diesem Grunde nicht mehr gut durchblutet sind, hat das unmittelbare Konsequenzen für die den Gefäßen benachbarten Nervenzellen. Wir haben im Gehirn drei Zelltypen: Gefäße, Nervenzellen und Gliazellen, also Stützzellen. Die Gefäße und die Nervenzellen sind dabei besonders wichtig. Wenn der Gefäßfluss nicht mehr gesichert ist, werden die benachbarten Nervenzellen in ihrer Funktion erheblich beeinträchtigt. Das nennen wir eine vaskuläre Demenz.
Bei den neurodegenerativen Demenzen handelt es sich um Stoffwechselschädigungen in der Zelle. Diese führen dazu, dass die Funktionsfähigkeit innerhalb und zwischen den Nervenzellen sehr stark beeinträchtigt ist und irgendwann ganz zum Erliegen kommt. Es bilden sich Stoffwechselreste, mit denen die Zelle überhaupt nicht mehr arbeiten kann, die sie an den wichtigsten Zellfunktionen hindern. Schließlich stirbt sie ab.
Ist die Unterscheidung der Demenzen wichtig?
ANDREAS KRUSE: Man sollte die strenge Differenzierung zwischen den vaskulären und den neurodegenerativen Demenzen nicht wie eine diagnostische Monstranz vor sich her tragen. Letzten Endes finden sich auch bei der Alzheimer-Demenz Gefäßprozesse, wie sie sich bei den gefäßbedingten Demenzen neurodegenerative Prozesse nachweisen lassen. Aber trotzdem ist die Unterscheidung gut, weil man mit Blick auf die vaskuläre Demenz – vielleicht könnte man auch sagen: mit Blick auf den vaskulären Schenkel der Demenz – ein hohes Präventionspotenzial annehmen darf. Bei der neurodegenerativen Demenz sind wir in Bezug auf die Erfolge von Vorbeugung noch zurückhaltender.
Aber ganz allgemein gesprochen, kann man demenzielle Erkrankungen aufhalten oder ihnen sogar vorbeugen?
ANDREAS KRUSE: Ja. Bei der vaskulären Demenz können Sie sämtliche Präventionsstrategien anwenden, die das Risiko einer Arteriosklerose verringern, Verzicht auf Rauchen, auf Alkohol, auf fettreiche Ernährung, Vermeidung von Übergewicht. Viel Bewegung. All dies trägt dazu bei, eine vaskuläre Demenz zu vermeiden. Auch bei der neurodegenerativen sollte man diese Präventionsstrategien beherzigen; zudem scheint die Prävention von depressiven Störungen ein gewisses Potenzial für die Vermeidung von Demenzen zu enthalten. Übrigens sollte man auch die soziale Aktivität in ihrer präventiven Bedeutung nicht unterschätzen.
Warum?
ANDREAS KRUSE: Sozialkommunikative Aktivität trägt dazu bei, dass die Alzheimer-Demenz später symptomatisch wird. Man bedenke hier: Zwischen der nach außen hin sichtbaren Symptombildung und dem Beginn der Alzheimer-Demenz besteht ein Zeitraum von ungefähr 15 bis 20 Jahren. Das heißt die Erkrankung verläuft über viele Jahre symptomatisch- oder klinisch- stumm. In dieser Zeit kann ein anregendes, partizipationsfreundliches Umfeld dazu beitragen, dass die Demenzerkrankung später symptomatisch wird. Und natürlich versuchen wir durch Umweltgestaltung und die Art der Kommunikation dazu beizutragen, die Ressourcen demenzkranker Menschen, emotionale, empfindungsbezogene, sozialkommunikative, körperliche und in Teilen auch kognitive, länger zu erhalten. So lassen sich Selbstständigkeit und Selbstverantwortung im Alltag länger leben.
Sie dringen als Wissenschaftler in die Erlebniswelt von Demenzkranken vor. Was haben Sie herausgefunden?
ANDREAS KRUSE: Uns alle treibt doch die Frage um, ob ein Mensch das, was ihn ausmacht und sein Leben erfüllt, vollumfänglich verliert, wenn er in seiner kognitiven Leistungsfähigkeit immer weiter eingeschränkt ist. Aber auch dann bleiben Emotionalität und Affektwelt noch relativ lebendig. Das lässt sich gut nachweisen. Deswegen müssen wir uns im Kontakt mit demenzkranken Menschen ganz anders verhalten als wir es bisher getan haben. Wir müssen ihn immer als jemanden ansprechen, der Ressourcen hat und nicht nur Defizite.
Dazu gehört, dass wir unser Menschenbild neu bedenken müssen. Der Mensch erschöpft sich eben nicht voll darin, wie differenziert seine kognitiven Ressourcen sind. Doch in unserer Gesellschaft ist die Kognition besonders hoch angesiedelt.
Wichtig ist auch, sich mit der Biographie des demenzkranken Menschen zu beschäftigen und so seine Erlebnisfähigkeit zu stärken. Jeder Mensch hat ein emotionales Skript, auf dem sinnliche Empfindungen wie sehen, hören, riechen und schmecken gespeichert sind. Da werden Emotionen und Affekte stimuliert und freigesetzt. Außerdem müssen wir aus dem Menschen genau herauslesen, welche Emotionen und Affekte in ihm arbeiten. Das läuft über die Mimik und zum Teil auch über die Gestik eines Menschen. In der Schizophrenieforschung nennt man das mimische Ausdrucksanalyse, ein hoch anspruchsvolles methodisches Verfahren, das wir in Heidelberg auf die Demenzforschung adaptiert haben.
Und mit welchem Ergebnis?
ANDREAS KRUSE: Dadurch haben wir einen Kompass, welche Emotionen gerade angesprochen werden. So können wir Situationen herstellen, von denen wir wissen, dass die demenziell erkrankten Menschen sie geschätzt haben: das Gebet, einen Bibeltext, ein Märchen, ein Gedicht, Begegnung mit anderen Menschen, Musik, Essen und dergleichen mehr.
Wenn die Emotionen so wichtig sind, dann müssen wir die emotionalen Fähigkeiten des Menschen doch entwickeln, bevor er dement wird, zum Beispiel in seiner Kindheit und Jugendzeit.
ANDREAS KRUSE: Ja. Wir müssen neben der kognitiven Entwicklung die emotionale und sozioemotionale sehr stark fördern. Wenn wir in unserem Institut in Heidelberg demenzkranke Menschen nach dem Befund beraten, antworten wir auf die Frage, wie sie damit umgehen sollen: Geh raus in die Natur und versuche, deine Empfindungswelt, deine Emotionalität zu entdecken. Geh raus zu den anderen Menschen, versuche, deine sozialkommunikativen Freuden, Interessen und Kompetenzen zu entdecken und stärke sie. Denn das sind Ressourcen, die mit zunehmender Schwere der Demenzerkrankung immer wichtiger werden.
Und was bedeutet diese Erkenntnis für den Umgang mit demenziell Erkrankten, wie Sie ihn zur Zeit beobachten?
ANDREAS KRUSE: Es gibt sehr viele Pflegeheime, in denen demenzkranke Menschen ein gutes Leben führen. Das erfordert ein sehr gutes Personalkonzept, Fortbildung und Begleitung von Pflegefachkräften. Denn sie werden in erheblichem Maße mit den Grenzsituationen des Lebens konfrontiert.
Zu einer vernünftigen, medizinisch-pflegerischen Begleitung von demenzkranken Menschen gehört zunächst eine gute Medikation. Man darf die pharmakologische Komponente keinesfalls unterschätzen. Diese Medikamentengruppen werden mit dem Begriff Antidementiva überschrieben. Zum zweiten ist die nichtmedikamentöse Behandlung wichtig, also sehr gezielte Aktivierungs- und Stimulationsstrategien, unter anderem durch Beschäftigung mit der Biografie des Kranken. Aber auch Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie.
Und drittens die Partizipation. Demenzkranke Menschen haben große Angst davor, völlig allein in der Welt zu sein und immer weiter aus ihr herauszufallen. Was unsere Haltung gegenüber demenziell Erkrankten angeht, müssen wir uns immer wieder vor Augen führen: Durch den anderen Menschen spricht Gott. Das Antlitz des Anderen richtet an uns die Forderung nach Achtung, Respekt, Mitverantwortung. So hat es Immanuel Levinas formuliert, und dies passt zu unserem Thema.
Und wie viel Selbstverantwortung kann man Demenzkranken einräumen?
ANDREAS KRUSE: Wenn man etwas für demenzkranke Menschen tun will, sollte man auch an die pflegenden oder versorgenden Angehörigen denken. Denn für sie ist die permanente Konfrontation mit einem demenzkranken Familienmitglied eine wirkliche Anforderung. Sie können den Alltag nicht mehr so gestalten wie früher. Die Kommunikation verändert sich, das Verhalten wird unkontrollierbar. Der Mensch, mit dem man viele biografische Stationen geteilt hat, entgleitet immer mehr.
Ein Modell, das ich wichtig finde, ist die sorgende Gemeinschaft. Angehörige müssen die Erfahrung machen, dass sie von Nachbarn, Bekannten, Freunden und bürgerschaftlich engagierten Personen mitgetragen werden.
Und es ist hier sehr hilfreich, wenn Angehörige den Eindruck gewinnen, dass sie medizinisch und pflegerisch gut betreut werden. Außerdem ist es wichtig, daraufhin hinzuweisen, dass überall Menschen mit Demenz und deren Angehörige leben. Damit ermöglichen wir ihnen, sich ohne Selbstwertzweifel und Scham zu zeigen. Und das ist mir eben auch sehr wichtig: Hier hat der öffentliche Raum, hier haben die Medien eine große Verantwortung. Nämlich für die Situation und auch für die Ressourcen, demenzkranker Menschen und ihrer Angehörigen zu sensibilisieren.
Was folgt daraus für die Kirchen?
ANDREAS KRUSE: Hier sehe ich eine große Aufgabe der Kirchen, denn sie haben Einfluss. Der Gedanke, dass uns in dem Anderen jemand begegnet, mit dem sich ein Kontakt entwickeln kann, ist im christlichen Glauben und im Gemeindegedanken verwirklicht. Wir werden nicht alles über die Pflegeversicherung leisten können. Das ist nicht finanzierbar.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus Ihrer Forschung für die Praxis und auch für die Politik?
ANDREAS KRUSE: Für die Politik heißt das, die Kommunen zu befähigen, das komplette Care- und Case-Management zu übernehmen, sowohl eine professionelle, wie eine bürgerschaftlich unterstützte Pflegestruktur aufzubauen. In diesem Fall bekommen die Kommunen die Leistungen der Pflegeversicherung vollumfänglich übertragen und können ein Pflegesystem aufbauen, das passgenau den Anforderungen der Pflegebedürftigen entspricht. Ich bin ein Verfechter dieses Modells. Sicher bin ich froh, dass es die Pflegeversicherung gibt. Denn sie hat viel für die Entlastung der Familie getan. Aber sie bestimmt eben auch, wie Pflege konkret aussieht. Da sollte die Kommune viel mehr Verantwortung übernehmen.
Ich denke, dass sich die Pflege in den nächsten Jahren dahin entwickeln wird. Ich kann mir vorstellen, dass es Kommunen geben wird, die über die klassischen Pflegeeinrichtungen hinaus Sorgestrukturen aufbauen, so genannte sorgende Gemeinschaften. Wir würden dann so etwas wie eine Plattform für bürgerschaftliches Engagement schaffen. Ich fände es sogar gut, wenn wir den Seniorengenossenschaftsgedanken weit nach vorne bringen könnten. Das könnte in Deutschland einen Zulauf bekommen. Dafür braucht man Kommunalvertreter, vor allem an der Spitze der Gemeindeverwaltung, für die nicht nur das Wirtschaftliche interessant ist, sondern auch das Soziale. Und die Sozialräume schaffen und mit wichtigen Institutionen wie den Kirchen und den Wohlfahrtsverbänden sprechen.
Was heißt das für Kirche und Diakonie?
ANDREAS KRUSE: Die Kirche wird die Diakonie immer wieder motivieren müssen, den von der Kirche praktizierten Gemeindegedanken hauptamtlich zu flankieren. Man kann ja nicht fünfzig Ehrenamtliche aus der Kirchengemeinde ohne jegliche Anleitung, ohne jegliche Weiterbildung in die Pflege schicken. Die Diakonie hat eine hohe Fachkompetenz. Dort arbeiten unter anderem Sozialarbeiter, Pflegefachkräfte, Psychologen. Diese müssten ein ehrenamtliches oder bürgerschaftlichem Potenzial schaffen, herausfinden, wer von den Ehrenamtlichen besonders für die Arbeit mit Demenzkranken geeignet ist. Solche Impulse für die Diakonie könnten aus der Mitte der Kirche kommen, nach dem Motto: Wir sind für die Verkündigung zuständig, und ihr müsst jetzt mithelfen, das in der Kommune umzusetzen. Da würde der Gemeindegedanke noch einmal in einer neuen Weise gelebt. Dass das möglich ist, haben die Kirchen, haben Diakonie und Caritas ja in der Flüchtlingskrise gezeigt.
Wie kann man grundsätzlich den Menschen die Angst vor einer demenziellen Erkrankung nehmen?
ANDREAS KRUSE: Wir sollten in unserer Gesellschaft den Gedanken der Verletzlichkeit stärker leben, den Gedanken, dass Gesundheit nicht einfach beliebig verfügbar, sondern ein Geschenk ist. Und die Verletzlich-keitsperspektive sollten wir stärken, nicht erst im Alter. In gewisser Hinsicht haben wir eine Form der Verletzlichkeit entgesellschaftet, nämlich jene, die zum Tod führt. Das heißt, wir haben Tod und Sterben mehr und mehr in Institutionen ausgelagert, so dass sich die Gesellschaft nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen muss. Nur die Einzelnen müssen schauen, wie sie mit Tod und Sterben fertig werden. Verletzlichkeit müssen wir im Blick auf demenzkranke Menschen auch in der Öffentlichkeit leben. Politik, Kultur, in bedeutsamer Weise auch der Glaube, müssen über die Verletzlichkeit des Lebens sprechen. Ich hätte die Hoffnung, dass demenzielle Erkrankungen dann nicht mehr mit großen Ängsten assoziiert werden. Der Begriff der Demenz ist nichts mehr als eine besondere Metapher dafür, dass der Mensch verletzlich ist. Die meisten Leute wissen übrigens gar nicht, was Demenz ist. Die eigentliche Angst ist die, sich vorzustellen, man habe sein Leben nicht mehr unter Kontrolle. Wenn ich wüsste, ich bekäme eine Demenz, würde ich sehr ausführlich über mich selbst reflektieren. Und in dem Maße, in dem man sein Selbst differenziert wahrnimmt, kommt es möglicherweise nicht zu den extremen Brüchen.
Haben Sie selbst Angst davor, dement zu werden?
ANDREAS KRUSE: Ich spreche mit meiner Frau häufiger darüber. Wir würden Ihre Frage mit einem Nein beantworten, aber nur in der Hoffnung, dass wir in einer sorgenden Gemeinschaft leben können, wie ich sie skizziert habe.
In der sich der Kranke im Rahmen seiner Möglichkeiten mit anderen austauschen kann?
ANDREAS KRUSE: Mir wäre eine Gemeinschaft, auch eine Einrichtung wichtig, in der ich von Menschen begleitet und betreut werde, die wirklich sensibel sind. Wenn das sichergestellt wäre und ich wüsste, meine Frau würde die Aufgabe der Pflege wahrnehmen und wäre gleichzeitig regelmäßig entlastet, im vollumfänglichen Sinne des Wortes, hätte ich keine Angst. Was auch damit zu tun hat, dass ich weiß, wie ich mich in den ersten Jahren nach der Diagnosestellung verhalten müsste, um möglichst lange meine Selbstverantwortung und meine Gemeinschaftsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Was würden Sie tun?
ANDREAS KRUSE: Ich würde beispielsweise viel mit meiner Frau, mit den Kindern und den Enkelkindern sprechen und ihnen erklären, dass sich bei mir nach und nach Veränderungen einstellen werden. Ich würde ihnen erklären, was es bedeutet: von Erde kommt ihr, und zu Erde werdet ihr. Und ich würde sie fragen, was für sie besonders wichtig ist, was sie von mir erwarten würden, so dass ich sie nicht zu stark belaste. Das kann man ja ein bisschen üben. Ich möchte auch die Menschen außerhalb meiner Familie auf meine Demenz vorbereiten. Außerdem würde ich das präventive Moment sehr stark leben. Und der Glaube und das Gebet sind für mich wichtig.
Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Jürgen Wandel am 31. Mai in Berlin.
Andreas Kruse