Pointiert

Die Praxis von Spiritual Care
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Der vorliegende Band leistet eine begriffliche und konzeptionelle Klärung sowohl von Palliative als auch von Spiritual Care.

Seit 2010 werden in einer "Nationalen Strategie Palliative Care" umfassende Maßnahmen zur medizinisch-pflegerischen Versorgung schwerstkranker Menschen in der Schweiz durchgeführt. In diversen Projekten wurden dabei auch die Praxis von Spiritual Care erforscht und Betreuungskonzepte für eine multiprofessionelle Begleitung erarbeitet. Der vorliegende Band leistet eine begriffliche und konzeptionelle Klärung sowohl von Palliative als auch von Spiritual Care. Die einführenden Auslegungen von Claudia Kohli Reichenbach geben einen klaren Eindruck von der Entwicklung der Spiritual Care und der theologischen Auseinandersetzung um das Verhältnis zu kirchlicher Seelsorge; die Positionen werden pointiert referiert und orientieren Lesende auch jenseits der Schweiz.

Dabei stellt der Begriff "Spiritualität" naturgemäß das Zentrum der Auseinandersetzung dar, wie Frank Mathwig, Theologie- und Ethikbeauftragter beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund, in seinem ersten Beitrag zum Band aus theologisch-ethischer Perspektive verdeutlicht.

Für Theologinnen und Theologen ist es eine Herausforderung, sich auf ein emotional hoch besetztes Feld einzulassen, auf dem sie aus ihrer Geschichte heraus Hoheitswissen beanspruchen. Die Herausforderung der Palliativ- und Hospizbewegungen ist jedoch, dass sie einen Paradigmenwechsel innerhalb von Medizin und Pflege darstellen, dessen Leitprämissen zwischen radikaler Patientenorientierung einerseits und Medikalisierung andererseits noch klärungsbedürftig sind; hier ist theologisch-ethische Unterstützung angebracht. Für die Spiritual Care-Diskussion ist dieser Prozess für eine Zuordnung kirchlicher Seelsorge zum ganzheitlichen Betreuungsansatz mehr als spannend. Die katholische Seelsorgerin und Ärztin Lea Siegmann-Würth leistet hier Klärung leitender Prinzipien in der Palliativversorgung und ordnet sie unter Rückgriff auf die Christliche Soziallehre theologisch ein. Manfred Belok, Pastoraltheologe in Chur, vertieft die Darstellung durch einen Rückblick auf die jüngere Entwicklung der Pastoralpsychologie. Er attestiert der Seelsorge in positivem Sinn "fehlende Eindeutigkeit", die es ihr ermögliche, bei aller Komplexität und Unterschiedlichkeit der Verständnisse in Theorie und Praxis "die Zuwendung Gottes zum einzelnen Menschen in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit sichtbar und erfahrbar zu machen". Der Beitrag Beloks zeigt, dass sich angesichts eines integrierten Konzepts von Spiritual Care Entwicklungsperspektiven für kirchliche Seelsorge ergeben, die Form und Inhalt gleichermaßen betreffen.

Zentral für die Seelsorgetheorie ist es deshalb, den Ansatz von Palliative Care insgesamt und die darin dem Bereich Spiritualität zugemessene Bedeutung zu verstehen. Dem dienen die weiteren Beiträge des Bandes: Frank Mathwig analysiert in kritischer Weise die Umsetzung des ganzheitlichen Ansatzes der Hospiz- und Palliativbewegung im Gesundheitswesen in der Schweiz und warnt vor einem Übergewicht der Palliativmedizin, vor einer Professionalisierung der Begleitung Sterbender und letztlich vor einer Medikalisierung des Sterbens. Mathwig bringt die lohnende Überlegung ein, dass die Palliative Care-Entwicklung in der Schweiz von den Erfahrungen der Diakonie lernen könne, ihrer Balance zwischen "Laienhaftigkeit und Profitum" und interdisziplinären und intermediären Strukturen. Der Mediziner Gian D. Borasio beschreibt die Bedeutung spiritueller Aspekte in der palliativen Versorgung ausgehend von den beiden Gründergestalten der Hospiz- und Palliativbewegung, Balfour Mount und Cicely Saunders. Er verweist auf die zentrale Bedeutung subjektiver Lebensqualität für eine gute Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen. Für Gian D. Borasio geht es um die Zukunft einer Medizin, die von der Seelsorge das Hören lernt, sich zurück zu nehmen weiß und eben darin den Caritas-Gedanken verwirkliche, der im Care-Begriff enthalten sei.

Der seelsorgetheoretisch pointierteste Beitrag kommt von der Berner Praktischen Theologin Isabelle Noth. Sie zeichnet knapp fünf Positionen zur Sterbebegleitung in Seelsorgelehrbüchern nach. Die zunehmend auf Kommunikation von Gottes Nähe durch eine erfahrungsreflektierte Seelsorgeperson und christliche Deutungsangebote angelegten Konzepte nehmen einen paternalistischen Verkündigungsaspekt zurück. Was bei Patient und Patientin aber angebracht sein mag, fehlt im Gegenüber zu Palliativmedizin und Spiritual Care. Noth fürchtet mit der Bochumer Theologieprofessorin Isolde Karle die Entkonkretisierung von Religion und die Funktionalisierung von Seelsorgenden als "Spiritualitätsbeauftragten". Offensichtlich wird die normative Funktion kirchlicher Seelsorge am Kranken- und Sterbebett mit der Ablehnung des Verkündigungsparadigmas in normative Ansprüche gegen eine vermeintlich "medizinisch geprägte (westlich-säkulare) Spiritual Care" überführt.

Es stellt sich die Frage, warum Seelsorgekonzeptionen noch immer an normativen Ansprüchen festhalten, die sich mit der konzeptionellen Gestaltung einer differenzierten und verschieden professionell qualifizierten Begleitung von Menschen in einer pluralistisch-offenen Gesellschaft schwer tun. Der Aspekt der Netzwerksensibilität ist wesentlich weiterführender.

Hier werden eigene Potenziale im Blick auf ihren Beitrag zu einer patientenzentrierten Betreuung geprüft und transparent kommuniziert, ohne vorab die Kooperationspartner im Netzwerk ob ihrer Fehlentwicklungen oder nicht-christlichen Prämissen kritisieren zu müssen. Letztlich geht es um die gemeinsame Sorge, um die Teilnahme und Teilhabe an einem subjektiv als sinnvoll erfahrenen Leben der Patienten, bei der der kirchlichen Seelsorge im besten Sinne des Wortes eine dienende Rolle zukommt.

Isabelle Noth/ Claudia Kohli Reichenbach (Hg.) Palliative und Spiritual Care. Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2014,156 Seiten, Euro 21,50.

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Traugott Roser

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